Von Michael Rothe
Es ist tatsächlich fünf vor zwölf an jenem Dienstag im Hochsommer 2024, als es in Sabine Weißes Laden „Mode und Mehr“ in der Großenhainer City voll wird. Kurzzeitig. Die Blumenuhr vis-à-vis, seit gut sechs Jahrzehnten einer der Hingucker in der Röderstadt, geht auf die Minute genau. Gleich haben die vier Bronzeglocken der spätbarocken Marienkirche ihren großen Auftritt.
Doch das Publikum hält sich in Grenzen – nicht nur an diesem Mittag. Großenhain geht es wie vielen Klein- und Mittelstädten in Sachsen: Nach der Wende aufwendig rausgeputzt, fehlen die Besucher und den immer wenigeren Geschäften die Kunden. Es ist auch bildlich kurz vor zwölf.
Die da mit medialem Gefolge bei Sabine Weiße einfallen, nennen sich „Die Stadtretter“, wollen zwar nichts kaufen – und sind doch Hoffnungsträger. Die Stadt ist die erste im Osten, welche Ariane Breuer und Stefan Müller-Schleipen aufsuchen. Beide sind Gründungsmitglieder des 2020 ins Leben gerufenen bundesweiten Netzwerks, dem mittlerweile 1.361 Kommunen und Unterstützer angehören. „Wir wollen hinterfragen, Hilfestellungen geben, Verbesserungsvorschläge machen“, so Müller-Schleipen. Dass es in Großenhain, seit drei Jahren im Klub, Handlungsbedarf gibt, sei unstrittig.
Am Frauenmarkt ist alles da – nur die Menschen fehlen
Am Vorabend hatte das kleine Rettungsteam in ein seit Jahren leer stehendes Schuhgeschäft zum Workshop eingeladen, um von Akteuren vor Ort Probleme und Wünsche zu erfragen und Verbesserungsideen zu sammeln. „Keiner kennt die Stadt besser als die 18.000 Menschen, die dort leben“, so Stadtretter Müller-Schleipen. Befragt, wofür Großenhain ihrer Meinung nach steht, habe es fast nur Positives gegeben. „Das ist bemerkenswert“, sagt Ariane Breuer. „Insbesondere die Vielfalt des inhabergeführten Einzelhandels wurde gelobt.“ Die Stadt hat kein großes Einkaufszentrum, keinen Ankermieter wie anderswo – stattdessen viele kleine Läden.
„Es gibt viel zu wenig Lob für Sachen, die gut laufen“, schildert Müller-Schleipen eine Erfahrung seiner Touren in Deutschland. Man sei in der eigenen Wohnung betriebsblind, da helfe der Blick von außen. Natürlich seien ihm und Breuer auch in Großenhain gleich Dinge aufgefallen, die zu hinterfragen seien. Zu wenig Grün und Wasser etwa, fehlende öffentliche Toiletten, Ampelphasen mit Vorrang für Fußgänger. Dennoch sei der erste Eindruck positiv.
Vor allem der Frauenmarkt hat sich rausgeputzt – auch dank der Landesgartenschau 2002 und des „Tags der Sachsen“ 2015. Eine 200 Meter kurze Flaniermeile mit kleinen Shops, Geldhaus, Kino – davor knapp 20 junge Bäume, beschauliche Laternen, Fahrradständer, Sitzgelegenheiten, eine Litfaßsäule, Briefkasten, Parkplätze. Auf den ersten Blick ist alles da, was eine lebendige City braucht. Nur die Menschen fehlen.
2030 ist die Hälfte des kleinen Einzelhandels weg
„Es sieht aus wie nach dem Einzug in eine neue Wohnung, aber es hängen noch keine Bilder an der Wand“, sagt Immobilienexpertin Breuer. „Uns fiel auf, dass viele Läden in den denkmalgeschützen Häusern nicht barrierefrei sind, es ist immer eine Stufe davor“, ergänzt Müller-Schleipen. Und er hat eine Idee: „In unserem Netzwerk gibt’s die Lego-Oma, die mit ihren Helfern aus den Plastik-Bausteinen passgenaue, individuell designte Rampen baut“, verrät er. Sie sitze selbst im Rollstuhl und kenne das Problem der Unerreichbarkeit.
Demografie, Digitalisierung, verändertes Konsumverhalten sowie Filialisierung, Großflächenkonzepte und steigende Mieten führten dazu, dass die Vielfalt in Innenstädten abnimmt, heißt es vom Kölner Institut für Handelsforschung. Die Forscher erwarten, dass bundesweit bald jedes fünfte Geschäft verschwindet. Im Osten komme erschwerend hinzu, dass viele Ladeninhaber, die sich in den 1990ern selbstständig gemacht hätten, nun in Rente gingen.
In der Großen Kreisstadt Großenhain wird nach Prognosen 2030 nur noch die Hälfte des heutigen inhabergeführten Einzelhandels bestehen. Daher ist es höchste Zeit für innovative Ansätze, die Innenstadt zu beleben, dem Leerstand zu begegnen.
„Viele Händler sind in die B-Lagen gezogen, wo die Mieten noch bezahlbar sind“, sagt Alexander Ehrke, seit fünf Jahren Citymanager der Stadt. Die leeren Innenstadt-Adressen seien teils viel zu groß für Jungunternehmer – wie die 300 Quadratmeter von Eduard Quaas. Der Gemischtwarenladen ist seit drei Jahren dicht, auch wenn das Schaufenster Aktivität vortäuscht.
Es geht nicht um Wettbüros, Spielhallen oder Shisha-Bars
Tom Quenstedt, Wirtschaftsförderer von Großenhain, kann sich dort auch eine Tanzschule oder ein Yogazentrum vorstellen: „Es muss nicht immer Handel sein.“ Wichtig für die Vordenker: Es geht nicht um Wettbüros, Spielotheken oder Wasserpfeifen-Rauch in einer Shisha-Bar – sondern um nachhaltige Belegung. Dem guten Willen stehe oft überbordende Bürokratie im Weg, wissen die Stadtretter: Etwa wenn Behinderten-Parkplätze vor Post und Ämtern nur von Rollstuhlfahrern genutzt werden dürfen, aber den halben Tag leerstehen. Manchmal sei es auch die Einstellung „Das haben wir schon immer so gemacht“. Da bleibt der Flohmarkt eben weiter draußen im Gewerbegebiet, statt den Markt zu beleben – obwohl sein Erfinder lange tot ist.
„Wir haben eine schöne Innenstadt“, sagt Karin Roisch, Inhaberin der „Wäschetruhe“ am Hauptmarkt. „Man kann bei unseren Läden fast bis vor die Türen fahren“, so die Händlerin. In Riesa und Meißen müsse die Kundschaft viel weiter laufen. Dennoch sei die Stadt leer, kämen auch sonnabends immer weniger Leute. „Wenn man auf der Straße umfällt, ist keiner da, der einem aufhilft“, sagt die Frau, die seit 50 Jahren im Handel arbeitet. Bauernmarkt, Einkaufsnacht und der Feierabendtreff „Sommerflair“ seien tolle Aktionen, aber insgesamt fehle die Frequenz. Ihr großer Wunsch: einheitliche Öffnungszeiten.
Das würde auch Jan Dingfelder unterschreiben, der „Selectorz“, einen Shop für Streetwear und Skateboards, betreibt. Der 2. Vorsitzende des Händlervereins fordert auch „mehr Gastro- und Jugendangebote“. Das Notizbuch der Stadtretter füllt sich. Ein paar Mädels aus Ortrand, die mit ihrer Klasse gerade auf Schulausflug sind, finden die Stadt langweilig. Sie hätten gern einen Jugendklub – und die kleine Malu, unterwegs mit Mama, mehr Spielplätze.
„Wenn die Weichen für die Zukunft gestellt werden, müssen die Bürger unbedingt eingebunden werden“, rät Müller-Schleipen. In den Gesprächen auf der Straße und in Läden wird deutlich: Die Großenhainer wollen ihre Innenstadt mitgestalten. Sie soll sich in einen „Treffpunkt für alle Altersgruppen“ verwandeln mit Ruhe- und Sitzmöglichkeiten in schöner Umgebung, ohne zwangsläufig Geld ausgeben zu müssen. Erste Plätze und Räume seien identifiziert worden, sagt Ariane Breuer.
Helfen soll eine Art Tinder für Gewerbeimmobilien
Doch die dringendste Aufgabe ist laut Citymanager Ehrke die Beseitigung und Verhinderung von Leerstand. Nicht jeder und jede hat es so leicht wie Yvonne Weser, Chefin des Herrenausstatters „Mann oh Mann“. Sie bekam mit Paul Stephan, ihrem Schwiegersohn in spe, den Nachfolger praktisch frei Haus geliefert. Ob es mit dem gelernten Groß- und Einzelhandelskaufmann passt, zeigen die nächsten Monate.
Auch Karin Roisch möchte ihre „Wäschetruhe“ demnächst abgeben. Da kommen die Stadtretter gerade recht mit ihrem Fragebogen. Das Netzwerk hat in Großenhain sein Projekt „Freundliche Übernahme“ gestartet. Die Stadt sei Vorreiter in Deutschland, heißt es. Die Plattform „Leerstandslotsen“ soll scheidende Mieter und Inhaber und mögliche Übernehmer verkuppeln. Ariane Breuer spricht von „Tinder für Gewerbeimmobilien“ und einer Datenbank mit 1.500 potenziellen Nachnutzern. Ein intelligenter Algorithmus vernetze Eigentümer, Gewerbemakler, Kommunen, Konzeptanbieter. Sucher und Gesuchte könnten sich kostenfrei anmelden.
Fazit der Stadtretter nach ihrer Visite in Großenhain: „Retten muss man die Stadt nicht, sie muss aber nach vorn denken, um zukunftsfähig zu sein – nach vorn denken!“Auch Sabine Weiße lässt sich auf die Leerstandslotsen ein, will in zwei Jahren abgeben. Bis dahin können Kunden an der Tür ihres Modeladens lesen: „Wir zahlen Steuern und sind für eine schöne, attraktive Innenstadt. Lasst die kleinen Geschäfte nicht sterben! Danke für Ihren Einkauf.“