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Wie kam es zur Insolvenz von Waggonbau Niesky und wie geht es jetzt weiter?

Waggonbau Niesky baut seit mehr als 100 Jahren Güterwagen. Zuletzt stritten sich Belegschaft und der slowakische Eigentümer. Gibt es jetzt noch Hoffnung? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Lesedauer: 5 Minuten

Die Belegschaft des Waggonbaus Niesky steht um eine Feuerschale an der frischen Luft.
Trauerstimmung in Niesky: 25 Mahnwachen veranstaltete die Belegschaft. Nun die Gewissheit: Insolvenz.

Von Ulrich Wolf & Steffen Gerhardt & Moritz Schloms

Am Donnerstag beantragte Waggonbau Niesky die Insolvenz, am Freitag erfuhren es die Mitarbeiter von den Anwälten. Das zuständige Amtsgericht in Dresden hat dem zugestimmt und einen vorläufigen Sachwalter eingesetzt.

Was ist der aktuelle Stand bei Waggonbau Niesky?

Der Betrieb in Niesky ist bundesweit der letzte seiner Art. Noch etwa zweihundert Mitarbeiter harren in dem Werk aus, in letzter Zeit hatte es aufgrund der Perspektivlosigkeit vermehrt Kündigungen gegeben.

2018 kaufte der slowakische Güterwagenhersteller Tatravagónka das Unternehmen. Damals gaben die Slowaken eine fünfjährige Beschäftigungs- und Standortgarantie. Heißt: Das Werk durfte nicht geschlossen werden, betriebsbedingte Kündigungen waren ausgeschlossen.

Die Lage schien zuletzt schlecht, Mitarbeiter sprachen von sich leerenden Auftragsbüchern und fehlendem Werkzeug und Material. Aus Angst vor einer Schließung Ende 2023 fingen die Mitarbeiter an, nach Ende der Frühschicht in ihrer Freizeit sogenannte Mahnwachen abzuhalten. Ziel: Den Eigentümer wachrütteln. Eine Antwort erhielten sie nicht, nun hat das Mutterunternehmen für den Standort in Niesky offiziell Insolvenz beantragt.

Die Waggonbau-Eigentümer wählten eine Insolvenz im sogenannten Schutzschirm-Verfahren. Dabei verliert laut Insolvenzordnung der Unternehmer nicht die Kontrolle über seinen Betrieb. Er steht lediglich unter der Aufsicht von Insolvenzgericht und Sachwalter und ist für drei Monate vor dem Zugriff der Gläubiger geschützt. Innerhalb der drei Monate hat der Unternehmer ein Sanierungskonzept auszuarbeiten.

„Das Vorhaben, die Insolvenz in Eigenverwaltung durchzuführen, sehen wir absolut kritisch. Die zurückliegenden Jahre der Eigenverwaltung haben den Standort erst in diese Lage gebracht“, sagt Eileen Müller, Gewerkschaftssekretärin der IG Metall Ostsachsen.

Sachwalter Jörg Schädlich sagte, Ziel sei es, die Produktion von Güterwaggons für die derzeit rund 200 Beschäftigten aufrechtzuerhalten. Ebenso sollen die Lohnzahlungen gewährleistet sein, die bisher immer pünktlich auf die Konten der Mitarbeiter eingingen. Parallellaufend werde nach möglichen Investoren gesucht. Das sächsische Wirtschaftsministerium betonte auf Anfrage das industriepolitische Interesse Sachsens und Deutschlands am Erhalt einer Güterwaggonproduktion in Niesky. Außerdem biete ein Insolvenzverfahren stets auch Chancen für Neues.

Wie war zuletzt die Stimmung?

Seit 25 Wochen halten die Mitarbeiter Mahnwachen ab. Dabei riefen sie den Eigentümer ihres Mutterkonzerns, Tatravagónka, dazu auf, endlich einen Plan für Niesky vorzulegen.

Betriebsratsvorsitzender Peter Jurke fasste die Lage vor der Insolvenz so zusammen: „Die Zukunft sieht nicht rosig aus. Derzeit werden noch anstehende Aufträge abgearbeitet. Doch wir haben keine Informationen, welche Aufträge Tatravagónka als Nächstes nach Niesky geben wird.“ Seit über einem Jahr bestehe zu dem Konzern aus Poprad kein Kontakt mehr. Niemand wisse, warum.

Vater und Sohn kämpfen gemeinsam für ihren Betrieb. Der 87-jährige Günter Aey arbeitete 44 Jahre im Unternehmen, sein Sohn Karsten Aey seit mittlerweile 33 Jahren.

Mit dem Insolvenzverfahren ist die Lage noch ernster geworden. Aktuell wisse die Belegschaft noch gar nichts, so Betriebsrat Jurke. Die Nachricht über die Insolvenz habe man von Anwälten mitgeteilt bekommen, weder mit dem Insolvenzverwalter noch mit dem Eigentümer habe es seitdem Gespräche gegeben. „Wir haben gar keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht.“

Was sagt der Eigentümer?

Nicht viel. Die zentrale Kritik der Belegschaft: Der Eigentümer in Poprad ignoriert Niesky. Das slowakische Mutterunternehmen Tatravagonka reagierte auch in der Vergangenheit nicht auf Anfragen der Sächsischen Zeitung. Vor Ort leitete Matúš Babík die Geschäfte für die Slowaken. Er hatte zuvor Karriere bei Tatravagonka gemacht, soll ein enger Bekannter des Eigentümers Alexej Beljajev sein. Mit dem Beginn des Insolvenzverfahrens wurde er ersetzt.

Matúš Babík im Jahr 2019. Bei einem Besuch im Februar 2023 wollte er sich nicht mehr fotografieren lassen. Ihn schien zu ärgern, dass die Mitarbeiter einen Artikel der Sächsischen Zeitung mit seinem Bild am Eingang des Verwaltungsgebäudes angebracht hatte

Die Belegschaft machte dem Geschäftsführer eine Reihe von Vorwürfen. Statt den Experten in Niesky zuzuhören, beanspruche Babík grundsätzlich das letzte Wort, treffe Entscheidungen allein. Das komplette Management der Firma habe er auf sich ausgerichtet, er kontrolliere Einkauf, Vertrieb und Qualitätssicherung.

Auf Presseanfragen antwortete Babík nur sporadisch. Im Februar 2023 aber empfing er die Sächsische Zeitung im verwaisten Verwaltungsgebäude von Waggonbau Niesky. Er dementierte die Vorwürfe gegen ihn, schob die Verantwortung den Mitarbeitern zu. Im Gespräch schimpfte Babík viel über stillstehende Maschinen, langsame Mitarbeiter und eine geringe Arbeitsmoral. Die Auftragslage sei nicht das Problem, sondern die Produktivität der Mitarbeiter. Betriebsrat Jurke konterte die Kritik: „Es fehlt im Werk an Materialien und Werkzeug. Wir müssen uns manchmal zu siebt einen Winkelschleifer oder einen Drehmomentschlüssel teilen!“

Was ist über den Eigentümer bekannt?

Wer den Eigentümer des Nieskyer Werkes ausfindig machen will, begibt sich auf eine Schnitzeljagd durch Europa. Die Spur führt zunächst zu einem Unternehmen in Landsberg in Sachsen-Anhalt. Von dort geht es weiter in de Schweizer Kanton Thurgau. Dort hat die 2007 gegründete G&S Rail Investments GmbH ihren Sitz. Eine Briefkastenfirma? Sie hat jedenfalls keine Mitarbeiter und wird von einem Treuhänder verwaltet. Als Gesellschafter dieser Firma fungiert die Optifin Invest s.r.o. in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Das ist eine Beteiligungsgesellschaft. Sie gehört zwei Männern, die dem Wirtschaftsmagazin Forbes zufolge zu den 50 reichsten Slowaken gehören. Da ist zum einen ein auf 220 Millionen Euro Vermögen taxierter Jurist und zum anderen der russischstämmige Unternehmer Alexej Beljajev. Beide machten den einst staatlichen Schienenfahrzeugkonzern Tatravagónka zum europäischen Marktführer für den Bau von Güterwagen. Es ist jenes Unternehmen, das 2018 über sein Firmengeflecht das Werk in Niesky erwarb. Das Geld für ihr ostsächsisches Investment organisierten die Slowaken überwiegend bei der Commerzbank, sie stehen bei dem Bankhaus mit mehreren Millionen Euro in der Kreide.

Wie oft hatte Niesky schon Pech mit seinen Eigentümern?

In die erste Insolvenz rutschte das Unternehmen 2008. Die Deutschen Bahn (DB) befreite die Waggonbauer. Schon ein Jahr später gingen erste Verkaufsgerüchte um, erzählen damalige Mitarbeiter. Die DB habe das Werk nur übernommen, um die Produktion versprochener Waggons sicherzustellen. Darüber hinaus sei die DB jedoch nie ernsthaft am Werk interessiert gewesen, heißt es.

2014 ging das Werk an die Investmentgesellschaft Quantum Capitals in München. Die behandelten ihren ostdeutschen Außenposten eher stiefmütterlich, trotz guter Auftragslage fehlte ständig Geld und der Waggonbau rutschte 2018 erneut in die Insolvenz. Dazu gab es harte Vorwürfe gegen die Münchner: Sie hätten die Firma systematisch entkernt, hieß es aus Kreisen der IG Metall. Das Unternehmen bestritt das.

Seit einem halben Jahr hält die Belegschaft Mahnwachen ab. Der Einsatz ist groß.

Schließlich übernahm der slowakische Waggonbauer aus Poprad. „Ich freue mich, dass es mit Tatravagonka einen Investor aus der Branche gibt“, sagte damals Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD). Das slowakische Unternehmen sei gewillt, seinen neuen Standort vernünftig auszubauen, hieß es 2018 noch von der IG Metall. Ausgang: Erneute Insolvenz.

Gibt es jetzt noch Hoffnung?

„Das ist sicherlich eine bittere Entscheidung und nicht die, um die wir in den vergangenen Monaten gekämpft haben“, sagt Uwe Garbe, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Ostsachsen. „Jetzt liegen die Karten zumindest auf dem Tisch. Darin kann auch eine Chance liegen. Mit dieser Gewissheit muss jetzt ein Investor gefunden werden.“ Man gebe die Hoffnung nicht auf.

Seit 1978 im Unternehmen, seit 2005 im Betriebsrat. Der 61-jährige Betriebsratsvorsitzende: Peter Jurke.

Für die IG Metall stehe fest: „Soll die Verkehrswende in Deutschland gelingen, muss der Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert werden – und das braucht Güterwaggons ‚made in Germany'“. Die aktuellen Krisen zeigten deutlich, wie wichtig eine eigene Produktion sei. „Wir haben hier top ausgebildete Leute. Die rund 5750 Jahre Berufserfahrung, die die Kolleginnen und Kollegen in Niesky mitbringen, sprechen für sich“, sagt Eileen Müller.

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