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Wie viel Bürokratie verträgt die Wirtschaft?

Ohne Regeln geht es nicht. Doch welches Maß an Bürokratie ist gesund für die Wirtschaft? Auch Sachsen sucht nach Antworten.

Lesedauer: 4 Minuten

Viele Reihen von Aktenordnern stehen auf dem Boden.
Als Hemmschuh abgestempelt: Bürokratie – hier bei einem Handwerkerprotest vor dem Bundeskanzleramt. Foto: Dpa

Von Michael Rothe

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Bürokratie. Kaum eine Veranstaltung mit Entscheidern aus Wirtschaft und Politik, in der das Monster nicht thematisiert wird. Ein Dauerbrenner. Bürokratie sei „ein gigantischer Mechanismus, der von Zwergen bedient wird“, meinte Honoré de Balzac schon im 19. Jahrhundert. Doch ohne sie läuft nichts. Das Gabler Wirtschaftslexikon hebt „die technische Überlegenheit gegenüber anderen Organisationsformen in komplexen Gesellschaften“ hervor: Objektivität, Stetigkeit, Berechenbarkeit, Planbarkeit, Zuverlässigkeit. Es räumt aber ein, dass Zweck und Ziele „oft schwer überschaubar und verständlich sind“. Der Bürokratie falle die Anpassung an eine sich ständig wandelnde Umwelt schwer, ihre Leistungsfähigkeit sinke. Forscher sprechen von Bürokratie-Burnout.

Das hat Sachsens Wirtschaftsministerium (SMWA) erkannt und unlängst zum öffentlichen Diskurs nach Radebeul geladen. „Wie viel Bürokratie brauchen wir?“, so der Titel. Angesichts der Dauer-Empörung war die Resonanz mit kaum 30 Zuhörern vor Ort und wenig mehr bei der Liveübertragung online überschaubar.

Bürokratie kostet jährlich bis zu 43 Milliarden Euro

Die Schätzungen, was Kontroll-, Berichts- und Dokumentationspflichten jährlich kosten, gehen auseinander. Der Normenkontrollrat – ein beim Bundesjustizministerium angesiedeltes unabhängiges Expertengremium – spricht von 17 Milliarden, das Statistische Bundesamt von 43 Milliarden Euro, rund ein Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Im Gastgewerbe frisst die Bürokratie nach Branchenangaben 2,5 bis fünf Prozent vom Umsatz. „Das ist gigantisch“, sagt Reint Gropp, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Dabei sei dort nicht einmal erfasst, welche Investition wegen des Aufwands nicht stattfindet.

Nach einer Umfrage der Wirtschaftsprüfer von KPMG ist überbordende Bürokratie für 61 Prozent der Unternehmen größtes Investitionshemmnis noch vor Personalnot. Und ein Weltbank-Ranking zur Geschäftsfreundlichkeit führt die Bundesrepublik unter 190 Staaten auf Platz 22, bei Gründungen an Position 125 – gleich nach Mali.

Deutschland sei schon immer regelintensiv gewesen, aber die Bürger hätten früher auch viel zurückbekommen, inklusive guter Straßen und Infrastruktur, so Gropp. Heute gebe es immer noch zahllose Regeln, aber der Staat leiste nicht mehr so viel. Das ändere die Wahrnehmung. Aber woran liegt das? „Wir schaffen es nicht, Regeln gegeneinander abzuwägen und Prioritäten zu setzen“, sagt er mit Blick auf Bausicherheit und Denkmalschutz, Fabrikneubau und Umweltschutz, Corona und Datenschutz. „Wenn wir nicht abwägen, ist alles gleich wichtig, gibt es endlose Verzögerungen.“ Die Schweiz habe ähnlich viele Regeln, aber dort verstehe sich die Bürokratie als Dienstleister, etwas zu ermöglichen.

Und der Wirtschaftsforscher hat eine provokante These: „Vielleicht wollen die Deutschen ja so viel Bürokratie.“ Da müssten sie nicht selbst entscheiden und Verantwortung übernehmen. Dem Staat die Schuld zu geben, sei einfacher. Letztlich tue die Politik, was die Mehrheit will.

„Es wird gemacht, weil es immer so gemacht wurde“

Dirk Neubauer, Landrat von Mittelsachsen, plädiert für eine Vertrauensoffensive. „Der Staat pflegt ein Misstrauensverhältnis zu seinen Bürgern und wundert sich, dass sie ihm nicht mehr trauen“, so der Parteilose. Auch fehle Mut, Dinge einfach zu tun, Entscheidungen zu treffen, die auch falsch sein können. Selbst seine Mitarbeiter würden sagen, dass vieles Unsinn sei, „aber es wird gemacht, weil es immer so gemacht wurde“, so der Chef einer Verwaltung mit 1.500 Beschäftigten für 300.000 Einwohner. „Das ist absurd, wir müssen mindestens um 300 Leute runter“, so Neubauer. Aber auch das einladende Ministerium ist in der Zwickmühle: Laut Stellenplan hat das SMWA seit 2014 personell um fast 18 Prozent zugelegt auf 400 fest Mitarbeitende. Doch das kommt bei dem Diskurs nicht zur Sprache.

Laut Landrat Neubauer braucht es ein Umdenken. Beim Pflegen alter Zöpfe würden Chancen verpasst, beklagt er. „Wenn die Leute wüssten, wo Sachsen hin will, hätten wir eine andere Diskussion, als jemanden wegzureden, der leistungslos immer stärker wird“, sagt er mit Blick auf die Wählergunst für die AfD. „Eine klare, verlässliche Richtung könnte viel Frust in Vorwärts verwandeln“ – kein Denken in Legislaturen, sondern Perspektive für 20 Jahre.

Andreas Sperl, Präsident der Dresdner Industrie- und Handelskammer (IHK), spricht von „Vorschriftenwut“. Es gebe „Zimmer voller Akten für nur einen Genehmigungsprozess“. Eine Sinnlos-Regelung ziehe weitere Auflagen nach sich. Der Abbau der Berichtspflichten zähle daher zu den wichtigsten Forderungen der 90.000 IHK-Mitgliedsunternehmen, so der Ex-Chef der Elbe Flugzeugwerke in Dresden.

Forderung: Mehr Vertrauen, bei Verstößen Sanktionen

„In den letzten zwei Jahren wurde deutlich mehr Bürokratie abgebaut, aber die Wahrnehmung ist eine andere“, sagt Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) – und erntet das Kopfschütteln seiner Mitdiskutanten. Er verweist auf den Widerspruch in der Wirtschaft, Rechtssicherheit und Planbarkeit haben zu wollen, aber auch wenig Aufwand. Und Dulig fordert mehr Sachlichkeit statt des Gefühls permanenter Gängelung. Er setzt auf Digitalisierung, mehr Eigenerklärungen der Firmen als Nachweise – „mehr Vertrauen und bei Nichteinhaltung höhere Sanktionen“ – und eine neue Führungskultur, bei der Chefs ihre Mitarbeitenden zu Entscheidungen ermutigen, sich aber auch hinter sie stellen, wenn sie sich als falsch erweisen.

Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) hatte im März Eckpunkte vorgestellt, wonach der Freistaat Städte, Gemeinden und Landkreise von Bürokratie befreien will. So wird geprüft, Kommunen befristet zu erlauben, von hinderlichen Landesvorgaben abzuweichen. Auf Antrag, versteht sich. Bewährt sich das Vorgehen, soll es dauerhaft möglich sein.

Vor Kurzem präsentierte Sächsische Normenkontrollrat seinen Jahresbericht. Er empfiehlt unter anderem einen Bürokratieabbau um 25 Prozent, die Einführung einer “One in, one out“–Regel bei der Gesetzgebung, ferner die Digitalisierung der Verwaltung zu beschleunigen und bei Neuregelungen eine Anhörungsfrist von sechs Wochen einzuhalten.

„Was jetzt zu tun ist“, heißt die Diskussionsreihe von Sachsens Wirtschaftsministerium. Um im Eingangsbild des Kommunistischen Manifests zu bleiben, hat die Wirtschaft „nichts zu verlieren als ihre Ketten“. Oder gilt beim Bürokratieabbau das Gleiche wie für Karl Marx Ideale: eine nette, aber unerreichbare Utopie?

4. Anlauf für weniger Papierkram

  • Die Ampel-Koalition hat weitere Maßnahmen zum Bürokratieabbau in Aussicht gestellt.
  • In 1. Lesung des Entlastungsgesetzes IV war im Bundestag auch davon die Rede, die Pflicht, für Kleinbeträge Papierbons auszuhändigen, abzuschaffen.
  • Laut dem Gesetzentwurf müssen Rechnungen, Kontoauszüge, Lohnlisten nur noch acht statt zehn Jahre aufbewahrt werden.
  • Für Deutsche soll die Meldepflicht bei Hotel-Übernachtungen entfallen.
  • Arbeitsverträge sind papierlos per E-Mail möglich.
  • Die Wirtschaft soll um insgesamt 500 Millionen Euro entlastet werden.
  • Das Justizministerium plant weitere 25 Maßnahmen im Umfang von 22,6 Millionen Euro.
  • So sollen die Schwellenwerte zur Meldung im Kapitalverkehr steigen.
  • Auch könnte künftig eine elektronische Information über Zutaten bei Lebensmitteln reichen. (dpa)

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