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„Wir sind derzeit die Geisterfahrer in der Energiepolitik, nicht die anderen Länder“

Frank Brinkmann, Vorstandschef der Sachsen-Energie AG, Ostdeutschlands größtem kommunalen Energieversorger, plädiert dafür, den großflächigen Ausbau der Solarenergie zu stoppen und die Energiewende in Teilen neu aufzusetzen. Die Gründe erklärt er im Interview.

Lesedauer: 7 Minuten

Nora Miethke

Dresden. Sachsen-Energie gestaltet als größter kommunaler Versorger Ostdeutschlands mit rund 600.000 Kundinnen und Kunden die Energiewende kraftvoll mit und treibt die Entwicklung einer modernen Infrastruktur voran. Seit Herbst 2024 bietet Sachsen-Energie allen Menschen in Sachsen Strom- und Erdgastarife an und erweitert sein Vertriebsgebiet auf den gesamten Freistaat. Ein Gespräch mit dem Vorstandschef Frank Brinkmann über die Energiewende, zunehmend fragwürdige Geschäftsmodelle, unfaire Kosten und vieles mehr.

Herr Brinkmann, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer wird nicht müde, auch im Bundestagswahlkampf zu fordern, dass die Energiewende neu aufgesetzt werden muss. Stimmen Sie ihm zu?

In Teilen ja. Wir müssen uns selbst ehrlich machen und fragen: Wo stehen wir in der Energiewende? Ein Beispiel ist Solar. Wir haben mittlerweile 100 Gigawatt im System verfügbar, bei einem durchschnittlichen Verbrauch von 57 Gigawatt, also fast das Doppelte.

Die Folge sind negative Strompreise an Sonnentagen. Wir entsorgen Solarstrom ins Ausland für viel Geld. Und in den Morgen- und Abendstunden importieren wir Strom, weil wir keine eigene gesicherte Leistung haben. Das ist ein Problem.

Wie hoch sind die finanziellen Verluste?

Die Energiebranche geht davon aus, dass es dieses Jahr wahrscheinlich ein zweistelliger Milliardenbetrag ist. Die eine Ursache ist der negative Strompreis, die andere der Redispatch, also das Abregeln, wenn zu viel Solarstrom eingespeist wird. Problem ist, dass es in Deutschland nur ein Strompreissignal gibt.

Was bedeutet das?

Ein Beispiel: Wenn in Baden-Württemberg der Strompreis ins Negative fällt, setzt dies ein Exportsignal in Richtung Frankreich und Schweiz. Paradoxerweise verfügt Baden-Württemberg jedoch über vergleichsweise geringe Kapazitäten an erneuerbaren Energien. Um die Netzstabilität zu gewährleisten, müssen deshalb konventionelle Kraftwerke einspringen – Kohlekraftwerke, die Strom zu einem Preis von angenommen 100 Euro pro Megawattstunde erzeugen.

Das Absurde ist, dass dieser Strom dann zu einem negativen Preis von etwa minus 50 Euro exportiert wird. Insgesamt entstehen also Kosten von 150 Euro pro Megawattstunde, die letztlich von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Diese strukturelle Dysfunktionalität führt zu finanziellen Verlusten in Milliardenhöhe. Ein weiterer ungebremster Ausbau der Photovoltaik muss dringend überdacht werden.

Aber der Ausbau auf den Hausdächern geht ja weiter, was passiert damit?

Das Geschäftsmodell für Hauseigentümer mit Solaranlagen auf dem Dach ist wirtschaftlich zunehmend fragwürdig. Der Eigenverbrauch rechnet sich nicht mehr im Vergleich zum regulären Strompreis, sondern nur noch durch die Einsparung bei den Netzentgelten. Doch genau hier liegt das Problem: Während der Eigentümer diese Kosten umgeht, bleiben sie für die Allgemeinheit bestehen – insbesondere für Mieter in Mehrfamilienhäusern, die die Netzentgelte weiterhin in voller Höhe zahlen. Tatsächlich steigen die Netzentgelte sogar, da der fortschreitende Ausbau der Stromnetze finanziert werden muss. Die Kosten werden also nicht reduziert, sondern lediglich umverteilt – zulasten jener, die keine eigene Solaranlage betreiben können. Das birgt erheblichen sozialpolitischen Sprengstoff und soziale Ungerechtigkeiten werden verstärkt.

Immer mehr Hauseigentümer wie hier in Leipzig lassen sich Solarpaneele auf ihrem Dach installieren. Die Nachfrage nach PV-Anlagen ist hoch. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Immer mehr Hauseigentümer wie hier in Leipzig lassen sich Solarpaneele auf ihrem Dach installieren. Die Nachfrage nach PV-Anlagen ist hoch. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Quelle: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Inwiefern?

Angenommen ein Hauseigentümer hat früher rund 6.000 Kilowattstunden Strom aus dem öffentlichen Netz bezogen. Dank seiner PV-Anlage reduziert er seinen direkten Netzbezug nun auf etwa ein Drittel. Doch während er tagsüber große Mengen Solarstrom ins Netz einspeist – den das Netz aufnehmen und verteilen oder entsorgen muss –, trägt er für die damit verbundenen Kosten keinen Anteil. Sein Verbrauchsprofil ist dabei besonders problematisch: Morgens und abends, wenn Strom am teuersten ist, bezieht er weiterhin erhebliche Mengen aus dem Netz. Doch anstatt diesen teureren Strom gesondert zu bezahlen, profitiert er vom Durchschnittspreis, den alle Verbraucher tragen. Das führt zu einer versteckten Umverteilung: Vor allem Mieter mit geringerem Einkommen, die keine eigene PV-Anlage betreiben können, zahlen die Zeche. Ihr Durchschnittspreis steigt, weil sie die Kosten für die Netzinfrastruktur und die unausgeglichene Lastverteilung mittragen müssen. Eigentlich müsste ein solches Verbrauchsprofil mit höheren Netzkosten belegt werden, um eine faire Kostenverteilung zu gewährleisten.

Wie hoch ist die Belastung der Kunden ohne Solaranlage?

Kunden mit Solaranlage zahlen mindestens 200 Euro im Jahr weniger Netzentgelte. Und das, obwohl die gleichen Kosten für das Stromnetz sowie den Netzanschluss der Kunden anfallen, da die Versorgung unabhängig vom Verbrauch zu jeder Zeit sichergestellt werden muss. Allein in unserem Netz sind das mehrere 10.000 Kunden. Da kann man sich ausrechnen, was für immense Kosten entstehen, die aktuell nur auf die Kunden ohne Solaranlagen verteilt werden.

Was muss sich also ihrer Ansicht nach ändern?

Die Einspeiser von Solarstrom müssen auch Netzentgelte tragen. In Westsachsen wurde ein Umspannwerk mit einer 380-KV-Leitung neben ein großes Solarfeld gebaut. Die Betreiber des Solarfelds mussten nichts zahlen, denn der Ausbau von Solarstrom soll ja beschleunigt werden. Umgekehrt kostet das Umspannwerk in Altwilschdorf für die Versorgung der Chipindustrie in Dresden mehrere 100 Millionen Euro, die auch die Abnehmer tragen müssen. Damit gefährden wir den Industriestandort Deutschland. Der gegenwärtige Kurs wirkt wie ein De-Industrialisierungsprogramm: Es gibt weiterhin zahlreiche Anfragen für neue Solarparks, und die Erwartungshaltung ist klar – die Netzinfrastruktur soll sich bedingungslos daran anpassen, ungeachtet der volkswirtschaftlichen Folgen.

Der Solarpark Auenhain am Markkleeberger See versorgt den Kanupark mit Strom. Die Netzentgelte für die Nutzung des Stromnetzes müssen andere zahlen, kritisiert Sachsen-Energie-Vorstandschef Frank Brinkmann.
Der Solarpark Auenhain am Markkleeberger See versorgt den Kanupark mit Strom. Die Netzentgelte für die Nutzung des Stromnetzes müssen andere zahlen, kritisiert Sachsen-Energie-Vorstandschef Frank Brinkmann.
Quelle: Andre Kempner

Was ist falsch an diesem Anspruch?

Dass es unwirtschaftlich ist. In der Lausitz gibt es einen Bürgermeister, der meinte, dass Sachsen-Energie ihm für eine Milliarde eine Wasserstoffleitung und eine Stromleitung bis zu seinem Ort an der polnischen Grenze legen müsste, denn er hätte einen Investor, der dort einen Elektrolyseur errichten will. Diese Anspruchshaltung steht exemplarisch für eine fehlgeleitete Energiepolitik. Allein im Jahr 2024 wurden insgesamt 16,4 Gigawatt an Solarstrom zugebaut – das entspricht über 25 Prozent der deutschen Tageslast, für die es keine Abnehmer gibt. Das ist ein Überziehen, aus dem wir jetzt dringend raus müssen. Die neue Bundesregierung muss das Netzentgeltsystem grundlegend reformieren. In diesem Punkt muss die Energiewende neu aufgesetzt werden.

Was schlagen Sie konkret vor?

Sachsen-Energie wird dieses Jahr rund eine viertel Milliarde Euro in den Netzausbau investieren, fast 80 Prozent dieser Mittel fließen in den Anschluss neuer Einspeiser. Belastet werden aber bislang nur die Ausspeiser. Das muss sich ändern. Ein zweites grundlegendes Problem ist die Art und Weise, wie die Netzkosten verteilt werden. Die echten Kosten sind völlig unabhängig davon, ob jemand eine einzige Kilowattstunde oder 8.000 Kilowattstunden im Jahr bezieht. Nehmen wir zum Beispiel einen privaten Hauseigentümer mit einer Solaranlage mit Speicher: 80 Prozent der Zeit benötigt er keinen Strom aus dem Netz. Doch an einem trüben Tag schon. Für ihn wird trotzdem ein Anschluss bereitgestellt, inklusive Zähler und Netzkapazitäten – zu den gleichen Kosten, wie für einen Haushalt ohne Solaranlage.

Dieses System mag in der Anfangsphase der Energiewende sinnvoll gewesen sein, als es darum ging, den Ausbau erneuerbarer Energien überhaupt erst anzustoßen. In Ostdeutschland liegt der Anteil erneuerbarer Energien bereits bei 74 Prozent, im kommenden Jahr werden es voraussichtlich 80 Prozent sein. Das ursprüngliche Ziel der Energiewende haben wir also eigentlich erreicht.

Jetzt stehen wir vor einer neuen Herausforderung: Die verbleibenden 20 Prozent auszubauen, wird ungleich teurer und komplexer als die ersten 80 Prozent. Und genau diese letzten Schritte drohen, unsere Industrie zunehmend aus dem Geschäft zu drängen. Wir müssen jetzt neu bewerten.

Zur Person
  • Dr. Frank Brinkmann verantwortet seit 2018 als Vorstandsvorsitzender die strategische Weiterentwicklung der Sachsen-Energie AG bzw. ihren Vorgängerunternehmen.
  • Von 2010 bis 2017 führte er in gleicher Funktion die Dortmunder Energie & Wasserversorgung GmbH.
  • Zuvor war er von 2005 bis 2009 Bereichsleiter/Prokurist der RheinEnergie AG in Köln und bis 2004 in verschiedenen Funktionen bei Accenture/Strategy in München tätig.
  • Dr. Frank Brinkmann (Jahrgang 1966) ist Diplom Physiker und promovierter Betriebswirt.

Wer wären die Gewinner und Verlierer dieser Reform?

Die Verlierer wären die Eigenheimbesitzer mit PV-Anlagen und die Betreiber von Solarparks, wie in der Nähe von Leipzig. Sie müssten ihre gerechten Einspeisegebühren zahlen. Sie werden beklagen, dass sie die Investition getätigt haben in der Annahme, dass sie nie Netznutzung zahlen. Ja, aber wer sagt, dass dies auf Dauer der Fall sein muss. Es wäre ein Systembruch, der Mut erfordert.

Wie muss die Energiepolitik auf Bundesebene umsteuern? Denn mit Blick auf den Klimawandel brauchen wir eine Energiewende oder nicht?

Ja, aber eineEnergiewende mit Augenmaß. Wir sollten uns jetzt erst einmal mit der 80 Prozent-Zielerreichung begnügen und das System stabilisieren. Ich bin für die Energiewende, wenn sie eine Blaupause für den Rest der Welt darstellt. Wenn wir als Industrienation es schaffen umzusteigen ohne signifikante Wohlstandsverluste. Aber wir sind derzeit keine Blaupause, im Gegenteil. Wir sind in unserem strikten 100 Prozent-Fokus derzeit die Geisterfahrer in der Energiepolitik, nicht die anderen Länder.

Und wie können wir daran arbeiten, wieder zu einer Blaupause zu werden?

In dem wir erst einmal viel besser vermarkten, was wir schon geschafft haben. Die Regelzone von 50 Hertz in Ostdeutschland ist führend, was den Anteil an Erneuerbaren Energien betrifft. Das ist ein Standortvorteil. „Unser Strom ist im Durchschnitt zu rund 80 Prozent aus Erneuerbaren“, diesen Satz sollten die Wirtschaftsförderer in ihre Prospekte schreiben. Deutschlandweit sind es nur 63 Prozent. Und als zweites müssen die Städte umdenken. Sie können sich nur gemeinsam mit den umliegenden Kommunen auf dem Land das Ziel setzen, klimaneutral zu werden, nicht allein. Schon im Altertum war es nie der Anspruch, dass eine Stadt sich selbst ernährte, denn sie lebte von den Ähren auf den Äckern, sie lebte von der Ernte auf dem Land. Und das gilt in der Energiewende genauso. Das Land muss besser partizipieren von der Ernte.

Wie geht Sachsen-Energie da mit gutem Beispiel voran?

Wir werden den weiteren Ausbau der Solarenergie ohne Batteriespeicher nicht mehr in großem Umfang vorantreiben – schlichtweg, weil es sich wirtschaftlich nicht mehr rechnet. Wie bei PV setzen wir beim Windkraftausbau künftig auf eine enge Verknüpfung mit Speicherlösungen, um eine verlässliche und steuerbare Stromversorgung sicherzustellen. Die Kombination von Technologien an den Netzverknüpfungspunkten stellt darüber hinaus eine sinnvollere Nutzung bestehender und begrenzter Netzkapazitäten dar. Diesen nachhaltig erzeugten Strom stellen wir gezielt den Kommunen dort zur Verfügung, wo wir den Strom ernten. Damit die Industrie dieser Kommunen klimaneutral produzieren kann. Grüner, regional verfügbarer Strom ist mittlerweile ein entscheidender Standortfaktor für neue Industrieansiedlungen. Das zeigt eindrucksvoll das Beispiel von TSMC in Dresden: Unternehmen legen zunehmend Wert auf eine stabile, erneuerbare Energieversorgung in unmittelbarer Nähe. Genau hier liegt eine große Chance für eine zukunftsorientierte Industriepolitik.

Viele Sachsen wünschen sich die Rückkehr zur Atomenergie. Halten Sie eine Rückkehr Deutschlands für realistisch?

Sie werden erstaunt sein, aber ich bedaure diesen beschleunigten Austritt aus der Kernenergie. Das deutsche Atomgesetz hat einen weit höheren Standard als normalerweise in westlichen Ländern üblich ist. Das heißt, anderswo hätten die deutschen Atomkraftwerke noch lange weiterlaufen können. Eine Rückkehr zur Atomenergie ist unrealistisch, nicht aus technischen Gründen, eher aus genehmigungsrechtlichen.

Wie kommen wir also von der Geisterspur herunter, wenn die Atomenergie nicht die Abfahrt ist?

In dem wir den Beschleunigungsgang rausnehmen und den Optimierungsgang einlegen. Das, was installiert ist, sollte optimal genutzt werden und nur noch in Maßen systemverträglich und verbrauchsnah zugebaut werden. Netzbetreiber sollten nicht gezwungen werden, jede Anlage anzuschließen. Und die Netzentgelte müssen gerecht strukturiert werden, damit wir die sozialpolitischen Schiefstände geraderücken.

SZ

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