Merklich gerührt tritt Gerd Kunkel ans Pult. 20 Jahre hat der Chemieingenieur das Wacker-Werk in Nünchritz geleitet. An diesem Donnerstag ist dort sein letzter Arbeitstag. Vom Wacker-Vorstandsvorsitzenden, vom Bundestagsabgeordneten Thomas de Maizière, vom Nünchritzer Bürgermeister, vom Chef des Chemieverbands Nordost ist er gerade mit Lob für seinen Einsatz förmlich überhäuft worden.
Nun ruhen die Augen der 50 Festgäste aus Wirtschaft und Politik auf ihm. „Ich fühle mich geehrt“, sagt der 62-Jährige. Und: „Danke!“ Er dankt den Kollegen in Nünchritz und aus den Wacker-Standorten Burghausen und München. Und den Partnern von jenseits des Zauns.
Denn tatsächlich – das ist nicht selbstverständlich für einen Industriebetrieb mitten in einem Wohnort – ist das nachbarschaftliche Verhältnis in Nünchritz geradezu harmonisch. „Das gute Verhältnis zu den Nachbarn war Gerd Kunkel immer wichtig“, sagt Wacker-Vorstandschef Rudolf Staudigl.
Regelmäßige Grillfeste für Anwohner, Sonderführungen über das Werksgelände, frühzeitige Informationen über geplante Projekte: „Das setzt Maßstäbe im Konzern.“ Ohnehin habe man bei Wacker vor 20 Jahren dem richtigen Mann das Vertrauen geschenkt, den Standort Nünchritz auf- und auszubauen.
Damals hatte Wacker das traditionsreiche Chemiewerk gerade erst von der Hüls AG übernommen. 700 Mitarbeiter waren es seinerzeit. Nünchritz hatte zwar in der Fachwelt einen guten Namen.
„Aber die Wirklichkeit vor Ort sah prosaischer aus“, sagt Staudigl. Der Auftrag für den neuen Werkleiter Kunkel: das Werk zu sanieren, zu modernisieren, für den globalen Wettbewerb auszubauen. „Und diese Aufgabe hat er mit Bravour gemeistert“, sagt der Wacker-Vorstandsvorsitzende.
Dabei sah es damals gar nicht so einfach gewesen, einen neuen Werkleiter für den Standort zu finden. „Viele andere hatten alle möglichen Gründe aufgeführt, um nicht nach Nünchritz zu müssen.“
Kunkel aber habe die Aufgabe ohne zu zögern angenommen. Der Chemieingenieur selbst, der fast sein ganzes Berufsleben bei Wacker verbrachte, würde sich wieder so entscheiden.
„Ich bin damals gern von Köln nach Nünchritz gegangen.“ Hier an der Elbe habe die Chance gewartet, einen wichtigen Standort auszubauen. Hier habe er sich wohlgefühlt – und nie gelangweilt. „Ganz im Gegenteil.“
Mitten in der Wirtschaftskrise fiel die Entscheidung, den Standort Wacker massiv auszubauen. Allein in die neue Polysiliciumanlage investierte Wacker 900 Millionen Euro. Ein ganzer Wald von Baukränen prägte während der Bauzeit das Werksgelände.
Das sei eine der größten Industriebaustellen Deutschlands gewesen, sagt Thomas de Maizière, der sich per Videobotschaft aus Berlin zuschaltete. Ihn habe das vom Ausmaß her an den Bau des Hauptstadtflughafens in Berlin erinnert. „Nur, dass Ihre Baukräne schon längst wieder abgebaut worden sind.“
Mehr als 500 neue Arbeitsplätze entstanden durch die Investition in Nünchritz. Der Ausbau sei eine echte Herausforderung gewesen, deutlich größer als etwa die Elbeflut am Werksgelände, erinnert sich Kunkel.
„Das Hochwasser war nach einer Woche vorbei. Der Ausbau hat uns Jahre beschäftigt.“ Jede größere Investition war ein Thema für den Werkleiter, die Sicherheitskontrollen, der Kontakt zu Abgeordneten, Ministerpräsidenten, zuletzt dem Bundespräsidenten, der Nünchritz einen Besuch abstattete. „Ein guter Werkleiter ist wie ein guter Jongleur, der eine ganze Reihe von Bällen gleichzeitig in der Luft halten soll“, sagt Vorstandschef Staudigl.
Dieses Jonglieren ist für Gerd Kunkel jetzt vorbei – er quittiert es mit Wehmut. „Aber ich fange langsam damit an, mich auf die neu gewonnene Freizeit zu freuen“, sagt der 62-Jährige.
Zu Hause in Weinböhla hat er jetzt mehr Zeit zum Gärtnern. „Ich freue mich auf ausgedehnte Spaziergänge mit unserm Hund, einem Rhodesian Ridgeback.“ Und für das Bergwandern in Südtirol wird es wohl auch häufiger Gelegenheit geben. Einen Monat lang hat er seine Nachfolgerin Jutta Matreux eingearbeitet. Und für alle Fälle hat sie auch seine Telefonnummer bekommen.
Von Christoph Scharf
Foto: © Sebastian Schultz