Suche
Suche

Aktenberg im Kuhstall: Wie Bürokratie die Macher der Region Dresden nervt

Anträge, Nachweise, Kontrollen – Bauern in Sachsen kämpfen mit immer mehr Papierkram. Damit sind sie nicht allein. Schafft die neue Regierung den Bürokratieabbau?

Lesedauer: 5 Minuten

Jörg Stock und Henry Berndt

Dresden/Freital/Oelsen. Ute Schanze braucht einen Kaffee. „Ich muss erst mal runter kommen“, sagt sie. Sie hat gerade das HIT gefüttert, das Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere. Eine Kuh ist gestorben, das muss sie melden. Die Datenbank will über jedes Kuhleben minutiös Bescheid wissen. Bei Versäumnissen könnte das Veterinäramt auf der Matte stehen.

Bürokratie hemmt Deutschlands Macher. Deshalb hat Friedrich Merz, Kanzler in spe von der CDU, den konsequenten Bürokratierückbau geschworen, „damit Innovation und Unternehmergeist nicht länger durch überflüssige Vorschriften behindert werden“.

Drei Beispiele aus Sachsen zeigen, wie dringend das nötig ist.

Die Landwirtin: Qualitätskontrolleure stehen Schlange im Stall

Ute Schanze notiert: Wann und wie hat sie die Tierkörperbeseitigung informiert? Wann wurde das Tier abgeholt? Gab es einen Beleg? Hat sie den Rinderpass mitgegeben? Bereit sein, ist alles. „Wenn eine Kontrolle kommt, soll die so schnell wie möglich über die Bühne gehen.“

Ute Schanze ist die Herdenmanagerin der Agrarproduktivgenossenschaft „Weideland“ in Oelsen im Osterzgebirge. Knapp eintausend Rinderpässe lagern in ihrem Aktenschrank. Pro Jahr geben die Tiere 4,4 Millionen Kilo Milch. Ein bisschen davon steht in einer Glasflasche auf dem Tisch. Frischer geht’s nicht.

Die Direktvermarktung hat bisher nicht geklappt. Es fehlt Zeit, die Sache anzugehen. Und Vertrauen, dass es sich lohnt. Allein der Preis für den Bondrucker einer Milchtankstelle würde in die Tausende gehen. Dabei würde sowieso niemand einen Bon drucken wollen, sagt die Landwirtin. „Ich kapier’ das nicht.“

Den Bürokratie-Anteil ihrer Arbeit schätzt sie auf fünfzig Prozent. Sie wäre gern viel öfter im Stall: Kühe anschauen, mit den Beschäftigten reden, Dinge optimieren. Stattdessen hetzt sie durch den Tag, „weil man ständig irgendwelches bürokratisches Zeug im Kopf hat.“

Man kann nichts in Ruhe machen, weil man ständig irgendwelches bürokratisches Zeug im Kopf hat. – Ute Schanze, Herdenmanagerin in Oelsen

Die Vorschriften kommen nicht nur vom Gesetzgeber. Um bei den Kunden zu punkten, hat die Milchwirtschaft zusätzliche Standards eingeführt. Wer von den Erzeugern nicht mitzieht, riskiert Nachteile beim Milchabsatz.

Also hat Ute Schanze gestern den CO₂-Fußabdruck ihres Betriebs an die Molkerei gemeldet. Denn die will die Emissionen ihrer Zulieferer um 30 Prozent senken. Letzte Woche war Kontrolle von QM-Milch. Da geht es um Transparenz und Rückverfolgbarkeit der Produktion. VLOG kontrolliert auch. Das ist das Siegel des Verbands Lebensmittel ohne Gentechnik. Und das QS-Zertifikat soll einen Bonus auf dem Schlachtkuhmarkt bringen.

Einmal hatte Ute Schanze vier Kontrollen in zwei Monaten. „Alle haben im Grunde dasselbe kontrolliert.“ Für sie ist das ein Haufen Arbeit, von dem sie oft nicht weiß, warum sie ihn macht. Nur gesunde Tiere geben ordentlich Milch. „Ich halte sie so, dass es ihnen super geht“, sagt sie. „Das muss eigentlich niemand kontrollieren.“

Der Bauingenieur: „Die Bürokratie ist die größte Belastung für das Baugewerbe“

20.000 Bauvorschriften und kein Ende: Der Dresdner Firmenchef Jörg Muschol sehnt sich nach einer schlankeren Bürokratie.
20.000 Bauvorschriften und kein Ende: Der Dresdner Firmenchef Jörg Muschol sehnt sich nach einer schlankeren Bürokratie.
Quelle: Rene Meinig

Die Betonplatte ist fertig. Bald wird an der Friedrichstraße nahe der Yenidze in Dresden ein neues Gebäude in die Höhe wachsen, ein Wohn- und Geschäftshaus mit zahlreichen Arztpraxen. Das Projekt verantwortet eine Arbeitsgemeinschaft, zu der die Dreßler Bau GmbH gehört. Chef der Dresdner Niederlassung ist Jörg Muschol.

Wenn es um Bürokratie geht, ist der 64-Jährige voll in seinem Element. Nicht nur in der eigenen Firma spürt er täglich die Belastungen, denen die Baubranche ausgesetzt ist. Seit 2021 ist Muschol Präsident des Bauindustrieverbandes Ost und somit besonders sensibilisiert für das Ausmaß des Problems.

Rund 20.000 Bauvorschriften, Tendenz steigend

Aus einem blauen kleinen Büchlein namens „Schwarzbuch 2024″, das der Verband selbst zusammengestellt hat, zitiert er Statistiken. Rund 20.000 Bauvorschriften habe die Branche derzeit zu erfüllen, Tendenz steigend. Das führe dazu, dass deutsche Bauunternehmen jährlich Kosten von mehr als 15 Milliarden Euro allein für die Bürokratie schultern müssten. „In Sachsen kostet uns jeder Mitarbeiter auf dem Bau damit im Jahr 6282 Euro“, sagt Muschol.

In Sachsen kostet uns jeder Mitarbeiter auf dem Bau damit im Jahr 6282 Euro. – Jörg Muschol, Präsident des Bauindustrieverbandes Ost

Die ausufernde Bürokratie sei inzwischen zur größten Belastung für das ostdeutsche Baugewerbe geworden. Das ginge schon beim Bewerben um Aufträge los. Obwohl es ein Portal gebe, auf dem für Firmen wie seine sämtliche Daten und Referenzen abgerufen werden könnten, müssten bei öffentlichen Ausschreibungen in der Regel komplett neue Bewerbungen zusammengestellt werden. „Das ist ein ungeheurer Aufwand, nur für die Möglichkeit, den Zuschlag zu bekommen.“ Das führe dazu, dass Unternehmen immer häufiger Aufträge sausen ließen.

Die Digitalisierung biete so viele Chancen, sagt Muschol, die bislang nicht im Ansatz genutzt würden. Da würden Verträge als PDF versandt, müssten ausgedruckt, eingescannt und wieder per E-Mail zurückgeschickt werden. „Das muss man sich mal vorstellen!“

Dazu komme, dass Behörden sich untereinander noch immer kaum austauschten und die Baufirmen deswegen in der Dokumentation vieles doppelt und dreifach weiterreichen müssten.

Neue Verordnungen seien zum Teil so kompliziert, dass kaum jemand durchsehe. Zum Beispiel soll die neue Mantelverordnung für Ersatzbaustoffe und Bodenschutz dafür sorgen, dass mehr Baustoffe recycelt und wiederverwendet werden. „In der Realität tritt genau das Gegenteil ein und viele Unternehmen schaffen den Aushub lieber auf die Kippe.“ Das 150-seitige Dokument sei schlichtweg kaum zu durchdringen. Selbst Mitarbeiter, die seit 30 Jahren auf der Baustelle arbeiteten, bräuchten nun extra Schulungen.

Wie lange werde schon versprochen, derartige bürokratische Auswüchse zu bekämpfen, fragt Muschol. „Am Ende wird jeder Ansatz sofort wieder verwässert. Das hält unser Land irgendwann nicht mehr aus.“

Der Pflegedienst: „Jeder muss sich doppelt und dreifach absichern“

Vermissen Vertrauen in ihre Arbeit: Carola Lorenz (l.), Leiterin der DRK-Tagespflege in Freital, und ihre Chefin Bärbel Bautz.
Vermissen Vertrauen in ihre Arbeit: Carola Lorenz (l.), Leiterin der DRK-Tagespflege in Freital, und ihre Chefin Bärbel Bautz.
Quelle: Egbert Kamprath

Zettelwirtschaft in der Pflege? Sollte Geschichte sein. Sie ist es aber nicht, sagt Bärbel Bautz. Für die Chefin der Sozialen Dienste beim Freitaler Deutschen Roten Kreuz ist das Gegenteil der Fall. „Es wird am Ende immer mehr.“

Ab Mitte der 2010er-Jahre war auf Betreiben der Bundesregierung ein neues Instrument zur Planung und Dokumentation der Pflege eingeführt worden, das sogenannte Strukturmodell. Grundstein ist die SIS, die Strukturierte Informationssammlung. Sie wird zu Beginn der Pflege angelegt, um die Lage des Betroffenen inklusive Biografie genau zu erfassen und die Maßnahmen der Pflege abzuleiten.

Geplant war, dass die Pflegefachkräfte aufgrund ihrer Kompetenz mehr Dinge selbst entscheiden dürfen. Routinemaßnahmen sollten nicht mehr aufgeschrieben werden. So würde man sich verstärkt den Menschen widmen können.

Ein, zwei Jahre habe das auch geklappt, sagt Jacqueline Baumung-Czerepak. Ihr Fachbereich Ambulante Pflege betreut beim Freitaler DRK etwa 260 Klienten. Die Dokumentation sei radikal abgespeckt worden. „Wir hatten einen roten Faden und es war schlüssig.“ Inzwischen sei man auf das Niveau von vor fünfzehn Jahren zurückgefallen. „Ich schreibe alles auf über den Menschen“, sagt Baumung-Czerepak. „Aber die Zeit für die Pflege geht dadurch verloren.“

„Es ist einfach kein Vertrauen da. Und das finde ich richtig traurig.“ – Carola Lorenz, Leiterin der DRK-Tagespflege in Freital

Die Ursache sehen die Pflegefachleute vor allem in den Anforderungen, die der Medizinische Dienst, das Qualitätssicherungsorgan der Kranken- und Pflegeversicherung, bei seinen jährlichen Kontrollen stellt. Es sei trotz Richtlinien schwer vorherzusehen, welche Nachweise bei den Prüfungen konkret gefordert würden. Davon abgesehen könne jeder klagen, der Versäumnisse beim Pflegedienst vermute. Für Baumung-Czerepak ist das Beschreiben von Papier blanker Selbstschutz: „Wer schreibt, der bleibt.“

Das Pflegewerkzeug SIS ist unterdessen vom Schlankmacher zum Zeitfresser geworden. So erlebt es Carola Lorenz, Chefin der DRK-Tagespflege in Freital. „Es wurde erweitert, erweitert, erweitert – demzufolge hat man immer länger dran gesessen.“

Was Carola Lorenz am meisten ärgert, ist das ihrer Ansicht nach zu kompromisslose Auftreten der Kontrollinstanzen, auch gegenüber Diensten, die regelmäßig gute Arbeit abliefern. Ihren eigenen zählt sie dazu. „Es ist einfach kein Vertrauen da“, sagt sie. Jeder müsse sich doppelt und dreifach absichern. „Und das finde ich richtig traurig.“

SZ

Das könnte Sie auch interessieren: