Von Michael Rothe
Zittau. Arbeitsschutz hat den Ruf, angestaubt zu sein. Zwar gibt es wie im Straßenverkehr zahllose Regeln für alle Unternehmen. Aber die Öffentlichkeit wird erst dann aufmerksam, wenn es Tote gibt. Im Jahr 2023 war das in Deutschland 351 Mal und in Sachsen 16 Mal der Fall. So oft verunglückten Menschen im Job, auf dem Weg von oder zu ihm, beim Betriebssport oder anderen Aktivitäten der Firma tödlich. Der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) wurden insgesamt knapp 716.000 Arbeitsunfälle gemeldet, meist in der Industrie und auf dem Bau. 1993 waren es noch mehr als doppelt so viele. Seitdem sank die Zahl von 52 Vorkommnissen je 1000 Vollarbeiter auf unter 20.
Doch Experten misstrauen den Erfolgszahlen und unterstellen, meldepflichtige Daten würden bewusst gering gehalten – wegen des Vergleichsdrucks zwischen Konkurrenten und eigenen Betriebsteilen sowie Zielvereinbarungen mit Führungskräften bzw. Mitarbeitenden und damit verbundenen Prämien.
Meldepflichtig sind alle tödlichen Unfälle und jene, die mindestens drei Tage Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben. Laut DGUV, Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, gingen seit 1993 auch in Sachsen die Fälle um fast 40 Prozent zurück, die Zahl der Getöteten von einst 116 sogar um 86 Prozent. Eine Sprecherin führt das zuerst auf den Wandel in der Arbeitswelt zurück. So gebe es heute viel weniger gefährliche Arbeiten als früher. In den angewachsenen Bürojobs könne man sich zwar den Fuß verstauchen, aber nicht vom Gerüst stürzen, sagt sie und ergänzt: „Zweifellos ist auch die Prävention besser und die Sensibilität der Mitarbeitenden größer geworden.“
„Wesentlicher Pfeiler aller Geschäftsprozesse“
Bei der Mobilen Haus-Krankenpflege Kröber GmbH stand das Thema nie infrage. Der 1998 gegründete Pflegedienst mit drei Standorten in Zittau und im acht Kilometer entfernten Hainewalde gönnt sich sogar eine eigene Fachkraft für Arbeitssicherheit. Mehr noch: Bei dem Unternehmen seien Sicherheit und Gesundheit „wesentliche Pfeiler aller Geschäftsprozesse“, heißt es in der Laudatio für den bundesweiten Gesundheitspreis der BGW. Jene Berufsgenossenschaft kürte das gut 80-köpfige Unternehmen im Februar für sein Gesundheitsmanagement zu einem der vier Sieger. Um den mit 40.000 Euro dotierten Preis, die wichtigste nationale Auszeichnung für vorbildlichen Arbeitsschutz, hatten sich 180 Unternehmen beworben.
In Zittau gibt es keine isolierten Aktionen, sondern einen ganzheitlichen Ansatz – dazu gesundes Frühstück und Massagen als „Goody“. Alle Mitarbeitenden unterschreiben Regeln zu gesundem Verhalten und zur Bereitschaft, sich persönlich weiterzuentwickeln. Sachsens Wirtschafts- und Arbeitsminister Dirk Panter (SPD) ist begeistert von der Arbeitsorganisation bei Kröber und dem Verständnis von Führung als Dienstleistung. Krankheitsquote und Unfallzahlen lägen dort deutlich unterm Branchenmittel, heißt es. Dabei sind in Pflegeberufen hohe Fluktuation sowie überlastete Beschäftigte verbreitet, ist der Krankenstand laut Techniker Krankenkasse mit 30 Tagen im Jahr um die Hälfte höher als im Durchschnitt.
„Unser Pflegedienst ist so gesund wie seine Mitarbeitenden“ – so das Credo von Birgit Kröber, Inhaberin und Gründerin der Mobilien Haus-Krankenpflege. „Ich bin die Kreative, die Impulsgeberin und die Menschenverbinderin“, sagt die 50-Jährige.
Schon viele Preise abgeräumt
Sie hat mit ihrer Belegschaft in den vergangenen Jahren zahlreiche Preise abgeräumt: als Oberlausitzer Unternehmen des Jahres, zwei Mal den BGW Gesundheitspreis, den 2. Platz beim Wettbewerb „Great Place to work“, den Corporate Health Award für herausragendes Gesundheitsmanagement, den Oberlausitzer Unternehmerpreis „new work“.
Das Unternehmen hat seit einigen Jahren 150.000 zusätzliche Beschäftigte, denen das neue Verständnis von Arbeit schon immer innewohnt: drei Bienenvölker. „Ordnung, Fleiß und ein perfektes Zeitmanagement sowie ein hohes Maß an Wirtschaftlichkeit und Teamgeist zeichnen Bienen aus – und genauso uns“, sagt Claudia Hesse, besagte Fachkraft für Arbeitssicherheit. „Und wir haben einen Schmierstoff, ein Motto, das uns zusammenhält: Wir bewegen was mit Wissen, Respekt und Leidenschaft. Der Pflegedienst habe „nachhaltig gesunde Arbeitsplätze etabliert als sinnerfüllte Lebenszeit“ und stehe gut da bei Mitarbeitergewinnung und – zufriedenheit. „Man hat nicht diesen Druck von oben, so viel wie möglich zu schaffen“ und könne sich viel mehr um die Menschen kümmern, lobt Nadine Liebig, die Leiterin Tagespflege. Und Fachpflegekraft Annekatrin Scholze freut sich, dass sie immer wieder Fortbildungsangebote bekomme, die sie weiterbringen.
Für Minister Panter ist der Zittauer Pflegedienst Vorbild für die gesamte Branche – und darüber hinaus. Sein Ministerium veranstaltet alle zwei Jahre einen Fachtag zum Arbeitsschutz, zuletzt im vorigen Sommer in Chemnitz. Bei der mittlerweile 10. Zusammenkunft ging es auch um die Frage „Ist der Mensch das größte Sicherheitsrisiko bei der Arbeit?“ In einer komplexen, sich schnell ändernden Arbeitswelt seien vielfältige Arbeitsbeziehungen und -abläufe zu managen, finde Arbeit nicht mehr nur an festen Orten und zu bestimmten Zeiten statt. Die Vernetzung technischer Systeme nehme zu. Andererseits bleibe der Mensch mit physisch belastenden Tätigkeiten und verschiedenen Gefährdungen konfrontiert. Laut DGUV wurden 2023 im Freistaat 3.865 Mal Berufskrankheiten anerkannt und fast doppelt so viele als Verdachtsfälle angezeigt. Genügt es in diesem Spannungsfeld, wenn man gut aufpasst? Wird digitalisierte Arbeit alles besser machen? Vorschriften und Regeln allein werden es nicht richten, zumal Sachsens kleinteilige Wirtschaftsstruktur Kontrollen erschwert. 86 Prozent der Unternehmen haben weniger als 20 Beschäftigte. Womöglich hilft der Arbeitsmarkt, denn die stark umworbenen Fachkräfte können aussuchen, wo und wie sie arbeiten.
Die Unternehmenskultur ist entscheidend
Ein gesundes und sicheres Umfeld trägt maßgeblich dazu bei, Arbeitsfähigkeit und Produktivität von Beschäftigten zu erhalten und zu befördern, so der Tenor des Fachtags. Sachsens Wirtschaftsstaatssekretär Thomas Krakinski (SPD) fordert, Arbeitsschutz und Gesundheitsmanagement zu verzahnen, um der „Vision Zero“, einer Welt ohne Unfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen, näher zu kommen. Laut jener Präventionsstrategie hätten Sicherheit und Gesundheit der Arbeitenden bei allen Arbeitsabläufen Vorrang. Das ist hierzulande vor allem eine Herausforderung für den Bau mit Absturzrisiken, Gefahren durch Gifte wie Asbest, schweres Heben und Hautschädigung durch UV-Strahlung.
Innovationen, etwa der Einsatz von Robotern und Drohnen, helfen, Verletzungs- und Erkrankungsrisiken zu senken. Doch entscheidend ist die Unternehmenskultur. Der Schlüssel: gute Führung, Beteiligung, Kommunikation. Wie bei der Mobilen Haus-Krankenpflege Kröber. Womöglich gerät der vermeintlich angestaubte Arbeitsschutz am 28. April wieder in den Fokus. Am jährlichen Workers Memorial Day gedenken Gewerkschaften weltweit jener Beschäftigten, die arbeitsbedingt erkrankt oder zu Tode gekommen sind.
