Knapp vier Jahre nach Einführung des Mindestlohns bekommen noch immer viele Menschen weniger Geld, als die gesetzliche Untergrenze erlaubt: Nach Kontrollen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben Zollfahnder allein in Ostdeutschland mehr als 630 Ermittlungsverfahren gegen Arbeitgeber wegen nicht gezahlter Mindestlöhne eingeleitet – ein Plus von 25 Prozent. Bundesweit waren es sogar 2 200 Ermittlungsverfahren. Schaden für den Fiskus und die Sozialkassen in sechs Monaten: 413 Millionen Euro.
Allein das Hauptzollamt Dresden, das für weite Teile Sachsens zuständig ist, leitete im ersten Halbjahr 89 Ermittlungsverfahren gegen Arbeitgeber ein. Insgesamt wurden im Osten 4 870 Unternehmen geprüft. „Verstöße gegen den Mindestlohn sind auch drei Jahre nach seiner Einführung keine Seltenheit“, beklagte am Mittwoch der neue Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG), Guido Zeitler, beim Gewerkschaftstag in Leipzig. Insbesondere im Gastgewerbe werde noch immer die Lohnuntergrenze unterlaufen. Dies gelte meist für kleine und mittlere Unternehmen, während große Ketten oft höhere Löhne und Tarifgehälter zahlen.
Gleichzeitig sei aber der Zoll immer seltener in der Lage, die deutschlandweit 2,2 Millionen Betriebe überhaupt zu kontrollieren. „Rein statistisch muss bundesweit ein Betrieb nur alle 40 Jahre mit einer Kontrolle rechnen – in Ostdeutschland sogar nur alle 45 Jahre“, rechnete Zeitler vor. Doch trotz weniger Prüfungen werde der Zoll immer häufiger fündig. „Die Zahlen zeigen dabei nur die Spitze des Eisbergs, denn in den seltensten Fällen werden Tricksereien auch aufgedeckt.“ Zeitler fordert daher eine deutliche Aufstockung der Finanzkontrolleure um 10 000 Beamte. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) plane vorerst nur eine Erhöhung um 1 400 Stellen. „Wir müssen die Kontrollen verschärfen, und es muss mehr Personal zur Verfügung stehen, damit wir die Einhaltung des Mindestlohns auch durchsetzen können“, sagt Zeitler. „Sonst haben schwarze Schafe weiterhin leichtes Spiel.“
Schon das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hatte bei einer Befragung von Arbeitnehmern ermittelt, dass 1,8 Millionen Beschäftigte in Deutschland weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen, obwohl sie Anspruch darauf haben. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt zurzeit 8,84 Euro brutto für eine Arbeitsstunde, er soll ab 2019 auf 9,19 Euro steigen. 2020 ist nach Vorschlägen der Mindestlohn-Kommission von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaft eine weitere Erhöhung auf 9,35 Euro vorgesehen. Finanzminister Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) haben sich sogar für eine Erhöhung auf 12 Euro ausgesprochen. NGG-Chef Zeitler hat für den Vorstoß Sympathien: Die Debatte sei durchaus richtig, selbst 12 Euro reichten für den Lebensunterhalt kaum aus. Die Gewerkschaft leidet aber auch darunter, dass sich im Osten kaum noch Betriebe in ihren Branchen an Tarife binden. „In Branchen wie dem Bäckerhandwerk oder dem Gastgewerbe sind Tarifverträge eine Rarität“, beklagt Zeitler. „Neun von zehn Hotels, Gaststätten und Pensionen im Osten sind nicht tarifgebunden.“ In der Tarifflucht liege eine Hauptursache für das Lohngefälle zwischen Ost und West. „Die Menschen müssen sich auf den Weg machen und sich zusammenschließen – dann kümmern wir uns“, versprach der Gewerkschafts-Chef.
Solche Beispiele gäbe es. Wenn indes Arbeitgeber nun einen Fachkräftemangel beklagen, müssten sie erstmal ihre Hausaufgaben selbst machen und ordentliche Arbeitsbedingungen schaffen. Jahrelang hätten sie die niedrigen Löhne für sich ausgenutzt – trotz langer, körperlich schwerer Arbeit für die Beschäftigten.
Von Sven Heitkamp, Leipzig
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