Die Revolution in der deutschen Luftfahrt kommt unspektakulär daher: eine Handvoll Schreibtische vor je zehn Monitoren in leichtem Halbrund, bestückt mit Mikrofonen und Tasten. Heruntergelassene Jalousien tauchen den Raum ins Halbdunkel. Der Protagonist davor ist Fluglotse, sitzt im Tower des Flughafen Leipzig-Halle – und ist doch mit den Augen und seiner ganzen Aufmerksamkeit 450 Kilometer entfernt: am Flughafen Saarbrücken.
Der mit rund 15 000 Flugbewegungen im Jahr nach Erfurt zweitkleinste unter den 22 internationalen deutschen Airports wird seit Anfang Dezember vom Remote Tower Control Center in Leipzig ferngesteuert. Nach gut 2 500 erfolgreichen Starts und Landungen hielt die Deutsche Flugsicherung (DFS) am Dienstag die Zeit für gekommen, die„neue Ära der Flugverkehrskontrolle in Deutschland“ mit 150 geladenen Gästen zu feiern. Eine willkommene Gelegenheit nach all der Kritik, die das Bundesunternehmen mit 5 400 Mitarbeitern einstecken musste. Auch der akute Personalmangel bei der DFS hatte im vergangenen Jahr zu vielen Verspätungen und Ausfällen beigetragen. Anfang März unterstellte der Bundesrechnungshof Misswirtschaft und rügte zu hohe Gehälter und Pensionsleistungen der Luftüberwacher, die mit 55 Jahren und 70 Prozent ihres Gehalts in Rente gehen können. Und bis vergangene Woche hatten massive Softwareprobleme zum Ausfall Hunderter Flüge geführt.
Dass die DFS digital durchaus fit ist, beweist sie mit den nun offiziell gestarteten RTC-System, dass gemeinsam mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall und dem österreichischem Hightech-Unternehmen Frequentis entwickelt wurde und die Fernüberwachung und -steuerung kleiner Flughäfen durch eine zentrale Stelle ermöglicht: einen Raum im Erdgeschoss des Towers am Flughafen in Schkeuditz.
Der Lotse kann alle Bewegungen auf dem Flugfeld in Saarbrücken sowie herannahende und startende Maschinen genau verfolgen. Er sieht über schwenk- und zoombare Infrarot- und andere Kameras mindestens so gut, was Hunderte Kilometer entfernt passiert, wie seine Kollegen 60 Meter höher auf die Piste vor ihrer Nase. Vor allem nachts, bei Nebel und schlechtem Wetter übertrumpft das System die Sehfähigkeit des schärfsten Lotsenauges.
Fünf nebeneinander angeordnete Bildschirme ermöglichen eine 360-Grad-Rundumsicht. Gerade sucht sich ein rotes Viereck am Himmel über Saarbrücken ein neues Ziel. Erst Sekunden später am Bildschirm erkennbar, setzt eine viersitzige Piper PA-28 zur Landung an. Dann schwebt ein Cessna Citationjet ein. Alles läuft reibungslos. Der Lotse spricht mit den Piloten, als säße er im baufälligen Kontrollturm vor Ort, doch der ist leer. „Zehn Lotsen sind nach Leipzig umgezogen, einige in den Vorruhestand geschickt, niemand entlassen worden“, sagt Ludwin Vogel, Sprecher der Flug-Hafen-Saarland GmbH.
Mit dem neuen System will die DFS das jährlich wachsende Flugaufkommen bewältigen. 2018 habe es allein in Deutschland 3,35 Millionen Flugbewegungen gegeben, sagt Firmenchef Klaus-Dieter Scheurle – Rekord. Deutschland mache nur 3,5 Prozent des europäischen Luftraums aus, die DFS müsse aber ein Drittel des Verkehrsaufkommens bewältigen. Das Unternehmen sei das weltweit erste, dass einen internationalen Flughafen fernsteuere. 2011 hatte die Planung begonnen, dann habe es, wie meist, wenn Neuland betreten werde, Verzögerungen gegeben, so Scheurle zur SZ. Insgesamt sei man 1,5 Jahre in Verzug, doch das sei kein Drama.
Und warum wurde gerade Leipzig ausgesucht? Alexander Koch, bei der DFS verantwortlich für alle 16 Towerstandorte, begründet das mit guten Erfahrungen aus einem Feldversuch mit Erfurt 2006, dem eigenen Gebäude und kurzen Wegen für die Lotsen. Der Leipziger Standort mit derzeit 45 Beschäftigten, davon 25 Lotsen, werde am Ende größer sein als der in Frankfurt, sagt Koch. Er verschweigt nicht, dass es nicht zuletzt um „Einsparung von 15 bis 20 Prozent an Personalkosten“ geht. Im nächsten Schritt sollten die Lotsen jeweils die Zulassung für mehrere Airports erhalten.
Im einstigen Technikraum des Leipziger Towers stehen schon die Pulte für die nächsten Fernsteuerungen: Im Herbst 2020 kommt der Flughafen Erfurt unter Leipzigs Fittiche. „Dresden folgt 2022“, verrät DFS-Chef Scheurle. Das Vorhaben ist seit Ende 2013 bekannt, nun nennt er erstmals eine Jahreszahl. Dresden-Klotzsche, wo 15 Lotsen arbeiten, sei mit mehr Flügen als Saarbrücken und Erfurt zusammen, eine neue Herausforderung. Münster und Bremen seien weitere Übernahmekandidaten.
Götz Ahmelmann sieht sich „doppelt betroffen“. Als Chef der Mitteldeutschen Flughafen AG verantwortet er auch die Airports in Leipzig und Dresden. „Ich bin überzeugt, dass der Weg richtig ist“, sagt er. Er verhehle aber nicht, dass es an der Elbe Vorbehalte gebe. Die Sorge, Dresden werde an Bedeutung verlieren, teile er nicht. „Im Gegenteil, das System wird beiden Standorten helfen“, ist Ahmelmann überzeugt. Dresdens Airport sei größer als der in Saarbrücken, biete vom Zweisitzer bis zum A380 die ganze Flugzeugpalette und sei mit den Elbe Flugzeugwerken, dem IMA und anderen ein wichtiger Luftfahrtstandort.
Noch sind die Monitore an jenem Pult in der Ecke schwarz, hängt eine Folie über dem Mikrofon. Doch das Modell des Elbdampfers „Dresden“ im Foyer des Towers, die Bastelarbeit eines pensionierten Lotsen, deutet bereits an, wohin die Reise geht.
Von Michael Rothe
Foto: © Ronald Bonss