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Endlich Doktor nach über 50 Jahren

Sein Leben lang träumte Dieter Mittag von einem Doktortitel in Medizin. Nun, mit 80 Jahren, hat er den Hut auf.

Lesedauer: 3 Minuten

Es sind nur wenige Minuten, aber Dieter Mittag kommen sie wie eine Ewigkeit vor. Gerade hat sich die Jury nach nebenan zur Beratung zurückgezogen. Gleich wird sie ihr Urteil darüber bekannt geben, ob Mittag die Verteidigung seiner Doktorarbeit erfolgreich bestanden hat und sich künftig Doktor der Medizin nennen darf.

Aufgeregt tippelt der 80-Jährige vor den vorderen Stuhlreihen hin und her. Hier, im Hörsaal von Haus 19 auf dem Gelände des Uniklinikums, hat er soeben das vollendet, wovon er sein Leben lang träumte. Seine Doktorarbeit trägt den wunderbaren Titel „Epidemiologie des Typ-2-Diabetes, Qualität der Glukosekontrolle und assoziierter Risikofaktoren des Metabolisch-Vaskulären Syndroms in einer ländlichen Praxis für Allgemeinmedizin“. Anders ausgedrückt: Wer bekommt Typ-2-Diabetes und wie kann man medizinisch darauf einwirken?

Vor ziemlich genau einem Jahr hat Mittag die Arbeit bei der medizinischen Fakultät eingereicht. Zwei Gutachter gaben ihm „cum laude“, was „gut“ entspricht. Nun bescheinigte ihm auch die Bewertungskommission bei der Verteidigung eine „fleißige Arbeit“. Ob das zum Bestehen reicht? Gleich wird er es erfahren.

Man ist geneigt zu sagen: Die paar Minuten wird Dieter Mittag nun auch noch warten können. Seit seinem Studienabschluss in Medizin 1970 sind inzwischen immerhin fast 50 Jahre vergangen. In dieser Zeit unternahm Mittag ganze vier Anläufe für seine Promotion. Direkt nach dem Studium hatte er schon sein erstes Thema, als plötzlich die Studienordnung geändert wurde. Von da an brauchte man erst ein Diplom, bevor man den Doktor machen durfte. Dafür war seinem Professor aber das Thema zu schade. 

Beim zweiten Anlauf Anfang der 70er-Jahre sollte sich Mittag mit Gallenoperationen beschäftigen. „Das war eigentlich relativ einfach, aber dann kam ein Hausbau dazwischen, und die Sache war wieder gestorben“, erinnert er sich. Beim dritten Versuch sollte es endlich klappen: Für eine Studie über Neurosen befragte er mehr als 1000 Leute. Das Material war komplett. Dann kam die Wende, und statt Neurosen gab es auf einmal nur noch Depressionen. Wieder nichts.

Anfang der 90er hatte Mittag alle Hände voll damit zu tun, seine Hausarztpraxis in Hohenleipisch in Südbrandenburg neu zu gründen. Seine Landarztpraxis betrieb er dort schon seit 1972. „Nach der Wende hat man hat uns Angst gemacht, dass jetzt viele Ärzte aus dem Westen kommen würden“, sagt er. Gekommen ist niemand.

Dieser eine Gedanke

Die meisten seiner Patienten sind Dieter Mittag über all die Jahrzehnte treu geblieben. Säuglinge, die er behandelt hat, kommen heute als Großeltern zu ihm in die Sprechstunde. Seit 2001 betreibt er die Praxis gemeinsam mit seinem Sohn Frank. Dieter Mittag bietet bis heute Sprechstunden auf Bestellung an, übernimmt die Hausbesuche und betreut außerdem drei Seniorenheime. Ein ausgefülltes Berufsleben, weit über das Renteneintrittsalter hinaus. Nur ein Gedanke ließ ihn über alle die Jahre nie los: Eines Tages wollte er ein richtiger Doktor sein.

„Es hat mich immer ein bisschen gewurmt, wenn mich die Patienten ‚Herr Doktor‘ genannt haben“, sagt er. Andersherum habe er aber im Wartezimmer auch häufiger den Satz gehört: „Der ist ja gar kein richtiger Doktor.“ Auch das hat ihm nicht gefallen. Natürlich weiß er selbst, dass ein Doktortitel allein aus einem Menschen keinen besseren Mediziner macht – aber in den Köpfen der Patienten mache das schon einen Unterschied.

Nun also Anlauf Nummer vier. 2014 gab ihm der Dresdner Diabetes-Experte Prof. Markolf Hanefeld das neue Thema. Diesmal sollte nichts dazwischenkommen. Im Praxisalltag in Hohenleipisch gewann Dieter Mittag die meisten seiner Patienten für die nötige Studie. Der Rest war Fleißarbeit.

Zur öffentlichen Verteidigung der Arbeit nach Dresden reisten am Dienstagnachmittag viele seiner Freunde und Weggefährten an. Die Praxis in Brandenburg schloss früher als sonst. Das ganze Schwesternteam machte sich mit auf den Weg, genauso wie Mittags Sohn samt Partnerin. Sie alle saßen nun im Auditorium und drückten Dieter Mittag die Daumen.

Exakt eine halbe Stunde hat er Zeit, um über seine Arbeit zu sprechen. In den ersten Minuten ist seine Stimme noch brüchig. Die Fernbedienung für die Powerpoint-Präsentation macht ihm zu schaffen. Nach einem großen Schluck aus der Wasserflasche wird Mittag immer sicherer. Am Ende gibt es kräftigen Applaus.

Kein Vorteil für das Alter

Pause. Durchatmen. Für Glückwünsche ist es noch zu früh. Wenige Minuten später gibt Prof. Andrea Pfennig stellvertretend für die Bewertungskommission das Ergebnis bekannt: „Wir freuen uns, Ihnen zu Ihrer bestandenen Verteidigung gratulieren zu dürfen“, sagt sie kurz und knapp. Das war’s. Das kann Dieter Mittag nun niemand mehr nehmen. Wieder gibt es Applaus. Dann stehen die Gratulanten mit Blumensträußen Schlange. Sogar die eine oder andere Träne fließt.

Nie in der Geschichte der medizinischen Fakultät der Technischen Universität hat es einen älteren Doktoranden gegeben. Ob es so ein 80-Jähriger da nicht bei den Gutachtern ein bisschen einfacher hat? „Unsere Maßstäbe an die akademische Leistung einer Promotion gelten für alle Kandidaten gleichermaßen“, stellt Andrea Pfennig unmissverständlich klar. Sie glaubt, dass womöglich gerade der große Erfahrungsschatz von Dieter Mittag ihn letztlich gestärkt habe, seine Promotion erfolgreich abzuschließen.

An der Hausarztpraxis in Hohenleipisch muss nun ein neues Schild angebracht werden. „Dr. Dieter Mittag“ wird dort bald zu lesen sein. Lohnen wird sich das mit Sicherheit noch, denn das 50-jährige Praxisjubiläum 2022 will er auf jeden Fall noch erleben. Als Herr Doktor.

 

Von Henry Berndt

Foto: © René Meinig

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