Die Summe für den Strukturwandel in den Kohlerevieren ist klar: 40 Milliarden Euro soll es für die vier Reviere bis zum Kohleausstieg im Jahr 2038 geben. Jetzt geht es darum, wie das Geld am besten investiert werden soll, um für die betroffenen Menschen hochwertig Ersatz-Arbeitsplätze und eine lebenswerte Zukunft zu schaffen. Und da schätzt Dieter Rehfeld , Wissenschaftler vom Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen , die Ausgangslage im Mitteldeutschen Revier erheblich besser ein als damals im Ruhrgebiet.
Er machte das an drei Vorteile fest: Erstens es gibt mit den 20 Jahren bis zum Ausstiegsdatum einen klaren Zeitrahmen. „Damit ist hier die Gefahr geringer als im Ruhrgebiet, die Strukturkrise zu verdrängen“, betonte Rehfeld am Montag in seinem Impulsvortrag auf der Konferenz zum Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier im Kulturhaus in Böhlen. Zweitens gäbe es mit der Metropolregion Mitteldeutschland einen zentralen Akteur, der den Prozess des Strukturwandels managen könne und drittens verfüge die Region unabhängig von der Kohlewirtschaft über eine industrielle Tradition, an die angeknüpft werden kann, so Rehfeld. Der Forscher begleitet seit Jahrzehnten den Strukturwandel im Ruhrgebiet.
Seine Empfehlung für die Sachsen und Sachsen-Anhaltiner: Sich nicht allein auf die Hilfe von außen, also von der Bundesregierung oder EU-Kommission, zu verlassen. Ein erfolgreicher Strukturwandel ergibt sich vielmehr aus den vorhandenen Akteuren und Kompetenzen von innen. Weiterhin sei eine positive Vorstellung von der Zukunft notwendig, „eine gemeinsame Idee, die Orientierung und einen Rahmen gibt, der dann stückweise ausgefüllt wird“, so Rehfeld. Dieser Prozess erfordert ein Management, das Prioritäten setzt.
Und an diesem Punkt befindet sich gerade der Freistaat. Im Abschlussbericht der Kohlekommission habe man bewusst keine Idee beiseite gelegt und bis zum kleinen Kreisverkehr und Angelteich alle Vorschläge aufgeführt, betonte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Für die Priorisierung der Vorschläge müssen nun Qualitätskriterien aufgestellt werden. Für Kretschmer sind das ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erhöhung der Lebensqualität in den Kohlerevieren.
Vorschläge, die das erfüllen, hätten Vorrang. „Wir müssen schauen, welche Vorschläge von Akteuren vor Ort es auf der Liste ganz nach vorn geschafft haben“, nennt Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt ein weiteres Kriterium. Denn mit vorhandenen Unternehmen, Forschungsinstituten und Fachkräften ließen sich Vorschläge viel schneller umsetzen als wenn neue Firmen und Einrichtungen angesiedelt werden müssten.
Ein Schwerpunkt erfolgreicher Strukturpolitik müssen laut Rehfeld Investitionen in neue Bildungs- und Ausbildungsangebote sein. Die besten Schulen und Kitas gehörten in die Orte in den Kohlerevieren, wo die größte Strukturprobleme durch das Auslaufen der Kohlewirtschaft bestehen, fordert der Forscher aus Gelsenkirchen. Zwei erste Bildungsprojekte wurden auf der Konferenz vorgestellt.
So soll im Landkreis Nordsachsen ein Glascampus Torgau aufgebaut werden, um Weiterbildungsangebote für die im Landkreis starke Glas-, Glaswaren- und Keramik-Branche zu entwickeln. Zuerst habe man daran gedacht, Bachelorstudiengänge anzubieten, um die Firmen bei der Suche des akademischen Nachwuchses zu unterstützen, erläuterte Landrat Kai Emanuel. Doch eine Reihe von Firmenbesuchen hat ergeben, die Unternehmen haben vor allem Bedarf an praxisnaher Weiterbildung. Nun sollen im Herbst in Zusammenarbeit mit der Bergakademie Freiberg die ersten Lehr- und Studiengänge beginnen, um Mitarbeiter für Führungsaufgaben im Vertrieb oder im Personalwesen zu schulen.
Das zweite Projekt ist die sich in Gründung befindliche Chappe University. Dahinter verbirgt sich eine private Hochschule für angewandte Wissenschaften auf dem Gebiet Informationstechnik und Digitalisierung. „Wir wollen ein Angebot für Studenten machen, die den Weltmarkt für sich entdecken“, sagt Professor Claus Baderschneider. Er verfolgt die Idee seit vier Jahren und hofft nun, im Rahmen für Förderung des Strukturwandels im Mitteldeutschen Revier auch auf finanzielle Unterstützung oder Hilfe bei der Suche nach einem geeigneten Standort. Ziel ist es, in fünf Jahren Studiengänge für rund 300 internationale Studenten aufzubauen.
Die Studenten sollen als Werkstudenten an die Unternehmen in der Region vermittelt werden. Das biete die Chance, Absolventen an sich zu binden und sie zugleich als Brückenkopf zu ihren Heimatländern zu nutzen, aus denen in Zukunft vielleicht die Aufträge kommen, so Baderschneider. Mit Siemens, Comparex und einigen anderen Unternehmen hat er schon Partnerschaften geschlossen, die sich an der Chappe University beteiligen wollen.
Wen die Strukturwandel-Strategen noch nicht ausreichend im Fokus haben, sind die Frauen und ihre Perspektiven in den Kohlerevieren. Als aus dem Publikum die Frage und Kritik kam, dass das Podium rein männlich besetzt ist und ob es Projekte für junge Frauen geben wird, nutzte keiner der Politiker die Chance zu antworten. Die Fragen wurde einfach übergangen.
Von Nora Miethke
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