Boxbger/Görlitz. Noch steigt Dampf aus den Kühltürmen des Kraftwerkes Boxberg. Spätestens 2038 wird der letzte Block abgeschaltet. Doch bereits Ende 2029 gehen bei den ersten beiden Blöcken die Lichter in Boxberg aus, die Hälfte des Kraftwerkes wird abgeschaltet. Obwohl das nur noch vier Jahre hin sind, fehlen den Beschäftigten des Kraftwerkes noch immer Perspektiven. Immerhin seien es noch 700 im Tagebau Nochten und 500 im Kraftwerk Boxberg, sagt Boxbergs Bürgermeister Hendryk Balko. Das geplante Wasserstoffkraftwerk in Boxberg hat die Leag erst einmal auf Eis gelegt. Und so langsam wird auch die Politik unruhiger und der Ton rauer.
Hendryk Balkos Kritik geht in sozialen Netzwerken viral
Das zeigte jetzt der Boxberger Bürgermeister Hendryk Balko. Der junge Gemeinde-Chef ist eigentlich dafür bekannt, dass er mit Realitätssinn und Vernunft versucht, das Beste für Boxberg und den Kreisnorden herauszuholen. Doch erst musste er verkraften, dass der Anlagenbauer SKM nicht nur in Insolvenz geht, sondern auch keine Zukunft hat und aufgelöst wird. Ein mittelständisches Unternehmen weniger in Boxberg.
Und dann hörte er auch noch, wie in Görlitz mit weiteren Mitteln aus dem Kohleausstieg gerechnet wird. So zog er in den sozialen Netzwerken eine gedankliche Verbindung zwischen der Insolvenz von SKM und der seiner Ansicht nach fehlgeleiteten Verteilung von Kohleausstiegsgeldern.
Als Beispiel nannte er das Görlitzer Theater, das jetzt 60 Millionen Euro für seine Sanierung benötigt und dafür Kohleausstiegsgelder nutzen will. Ein Prestigemodell sei das, käme wieder nur Görlitz zugute. Andere Projekte kommen nicht mal in den Regionalen Begleitausschuss. Dabei tat Balko so, als wenn das Theater eine Sache der Stadt Görlitz ist, tatsächlich ist Mehrheitseigentümer der Bühnengesellschaft der Kreis Görlitz. Sie kann nur spielen, wenn das Gebäude in Schuss ist. Das gehört wiederum der Stadt Görlitz. So hängt alles mit allem zusammen.
Balkos Post in den sozialen Netzwerken zog Kreise, bis hin zu Landrat Stephan Meyer. Der erklärte jetzt vor Journalisten, dass er mit dem Boxberger Bürgermeister gesprochen habe. Denn der von ihm suggerierte Zusammenhang passe an der Stelle nicht. Das fängt schon damit an, dass nur die öffentliche Hand, also Städte und Gemeinden, Anträge für die Kohleausstiegsgelder stellen können, aber keine Firmen.
Für Unternehmen wie SKM stehen EU-Gelder aus dem Just Transition Fund zur Verfügung. Leicht kommt man an die Gelder, egal aus welchem Topf, aber ohnehin nicht heran. Und schließlich hatte Meyer schon frühzeitig klargemacht, dass er Görlitz andere Fördertöpfe für die Sanierung des Theaters empfiehlt. Bei den noch verfügbaren Geldern im Kohletopf will Meyer „den Fokus auf den Norden der Kreise Bautzen und Görlitz legen, damit dort etwas passiert“.
Landrat drängt auf Kurswechsel bei den Kohleausstiegsgeldern
Meyer dringt auf einen Kurswechsel. Keine Förderung mehr von weichen Standortfaktoren, sondern eher von der Erschließung von Gewerbe- und Industrieflächen, damit indirekt Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden. Das ist ganz im Sinne von Balko, wie er im Gespräch mit der SZ äußert. Auch er ist der Ansicht, dass in der ersten Förderperiode, die 2026 zu Ende geht, zu sehr auf weiche Faktoren wie Kitas, Dorfgemeinschaftshäuser oder die Straßenbahn in Görlitz Wert gelegt wurde.
Oder Kohleausstiegsgelder des Freistaates für die Umsiedlung der Landesuntersuchungsanstalt nach Bischofswerda genutzt werden. Stattdessen gibt es keine Möglichkeit, die kommunalen Kohleausstiegsgelder für eine bessere Anbindung seiner Region an die A4 zu nutzen über den Ausbau der B156, der B115 oder der Milau, einer Verbindung zwischen Leipzig und Weißwasser.
Enttäuschte Hoffnungen im Norden des Kreises Görlitz
Die zunehmend genervte Stimmung im Norden hängt auch mit dem bisherigen Erwartungsmanagement zusammen. Es war das große Verdienst von Weißwassers Ex-OB Torsten Pötzsch und der Lausitzer Kohlerunde, dass der Bund 2019 dazu gebracht werden konnte, den absehbaren Strukturwandel in der Lausitz mit enormen Milliarden-Summen abzufedern. Autoregionen wie der Stuttgarter Raum hätten das jetzt auch gerne.
Im Übermut der gewonnenen Schlacht in Berlin hatten Pötzsch und viele andere die Hoffnung, dass nun alle Projekte in Weißwasser und Umgebung verwirklicht werden könnten, um die Abwanderung zu stoppen und den Industriestandort erneut beleben zu können. Eine Renaissance der Stadt lag in der Luft, manche dachten an die Zeiten von Weißwasser in der DDR zurück, als hier knapp 40.000 Menschen lebten.
Der damalige Landrat Bernd Lange erklärte seinerzeit: „Alles in allem gibt es für die Einwohner von Mühlrose und Boxberg nun Klarheit und wir können gemeinsam die Folgen des Strukturwandels diskutieren“. Auch Hendryk Balko gesteht jetzt zu, dass Fehler gemacht, Hoffnungen geschürt wurden, die nun enttäuscht werden. Eine gewisse Staatsgläubigkeit schwang auch mit, dass mit staatlichen Fördergeldern es schon klappen wird.
Darüber hinaus unterschätzten aber die Vertreter des Nordens, dass die Abstimmung der Menschen mit den Füßen ungebrochen weiterlief, die Abwanderung nicht gestoppt war allein durch die Ankündigung von Fördermitteln. Und es hat auch Gründe, warum die Bundeswehr nach Straßgräbchen gehen wird mit ihrem neuen Reparatur-Bataillon und das Astro-Großforschungszentrum nach Görlitz – und nicht nach Weißwasser. Die Schlagworte lauten: keine Flächen, fehlende Attraktivität. Anderes wie der Ausbau der Infrastruktur, den Landrat Lange schon 2019 anmahnte, kommt einfach nicht von der Stelle.
Schließlich der größte Irrtum: Auf die Kohlegelder können alle Kommunen in den Kreisen Görlitz und Bautzen zugreifen. Angesichts der knappen kommunalen Gelder wären die Bürgermeister in Bischofswerda, Görlitz oder Oybin und Zittau selbst unter Beschuss ihrer Einwohner gekommen, wenn sie diese Chance nicht genutzt hätten, wichtige Projekte zu verwirklichen. So begann das Windhundrennen, das nun beendet werden soll.
Auch das ifo-Institut in Dresden stellte fest, dass die Hilfen aus dem Strukturstärkungsgesetz in Sachsen wenig zielgenau eingesetzt werden. Derweil leidet Ostsachsen unter dem demografischen Wandel, verliert bis 2045 rund 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Für das Forschungsinstitut ist nicht auszuschließen, dass das Bruttoinlandsprodukt in den Kreisen Bautzen und Görlitz dementsprechend zurückgeht. Balko nennt immer die 500 Millionen Wirtschaftskraft, die mit der Kohle verschwinden wird.
Braucht es wirklich 300 Hektar neue Gewerbegebiete im Norden?
Doch selbst wenn ab nächstem Jahr bei den Kohlegeldern umgesteuert wird, steckt der Teufel im Detail. Die größten Gewerbeflächen befinden sich in Boxberg beispielsweise auf dem Gelände des Kraftwerkes. Wer dort ungenutzte Maschinenhäuser oder andere Gebäude wegreißt, ist völlig offen. Dabei könnten nach Balkos Rechnung auf diese Weise auf einen Schlag 20 bis 30 Hektar Industriegebiet für Neuansiedlungen geschaffen werden.
Im Positionspapier der Nordkommunen finden sich Pläne für über 300 Hektar an Gewerbeflächen, die allein im Norden des Kreises Görlitz entstehen könnten. Kostenpunkt: 160 Millionen Euro. Aktuell verfügt die Region über etwa 800 Hektar Industrieflächen, von denen ein Viertel aber auch noch frei ist. Ob diese riesigen Flächen in absehbarer Zeit gebraucht werden, ist völlig offen. Investoren stehen nicht gerade Schlange, sonst gäbe es ja mehr Perspektiven für die Region. Und nur für Sonnenkollektoren ist auch keine Lösung, es fehlen die Einspeisepunkte ins Netz.
Schwierige Wirtschaftslage erschwert Strukturwandel
SKM ist nicht das einzige Unternehmen, das in Insolvenz geht. Die Oberlausitz erlebe eine Insolvenzwelle, sagt der Görlitzer Landrat Stephan Meyer. Darunter seien auch Traditionsunternehmen, die seit 100 Jahren hier tätig sind. Zuletzt hatten solche Betriebe wie der Waggonbau Niesky mit ihrem Aus für Schlagzeilen gesorgt. Allerdings liegen die Probleme bei jeder Insolvenz anders, mit dem Kohleausstieg hat das nicht immer zu tun.
Und auch die Wirtschaftsstruktur der Oberlausitz spielt eine Rolle. Sie ist sehr kleinteilig, die meisten Unternehmen haben bis zu zehn Mitarbeiter, da ist es schwer Forschung und Entwicklung zu betreiben, um mit der zeit zu gehen. Aber das wird immer wichtiger, um sich Wettbewerbsvorteile zu sichern. Beispiele wie Birkenstock in Görlitz, Bernstadt und bald auch bei Wittichenau, das Schweizer Unternehmen Skan in Görlitz oder der Autozulieferer TDDK in Bernsdorf im Kreis Bautzen zeigen jedoch auch, dass man sehr erfolgreich in der Oberlausitz produzieren kann. Und dafür gibt es noch viele Beispiele mehr.
Die Cottbuser Uni stellte jüngst fest in einer Untersuchung, dass es beim Strukturwandel längst nicht mehr darum gehe, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Hauptfrage sei, woher die Arbeitskräfte kommen. Dafür brauchen Regionen aber eine Idee, sagen die Wissenschaftler, mit der sie Menschen gewinnen können, herzukommen. Hendryk Balko räumt ein, dass das im Norden noch nicht gelungen sei.
Lange habe er sich mit dem Gedanken für eine Landesgartenschau beschäftigt. Doch dann kamen die drei Probleme gleich wieder: Fehlende Verkehrs-Infrastruktur, fehlende Hotels und großer Aufwand. Deshalb sieht er auch eine Bundesgartenschau skeptisch. Selbst wenn die erst nach 2040 spruchreif wäre.
Bis dahin ist aber noch alle Zeit, die Region hinter einer solchen Idee zu versammeln und mit den Kohleausstiegsgeldern sowie den Geldern für eine solche Buga nachhaltig zu investieren. Landrat Stephan Meyer und Ministerpräsident Michael Kretschmer haben ihre Unterstützung zugesagt. Was bei Akteuren wie Balko fehlt, ist das Zutrauen in ihre eigene Kraft.
SZ


