Michael Rothe und Florian Reinke
Dresden. Wenn in Deutschland von Insolvenz die Rede ist, läuten die Alarmglocken. Belegschaften fürchten um ihre Jobs, politische Entscheider um ganze Standorte. Lieferanten und Kunden sind verunsichert. Die Gerüchteküche brodelt. Gewerkschafter formieren sich zum Widerstand.
Ob solcher Sensibilität werden Medien aktiv, verstecken sich Verantwortliche vor Ort. „Bloß kein falsches Wort und noch Öl ins Feuer gießen“, so eine verbreitete Ansicht. Schnell ist von „Drama“ die Rede, gar vom „Aus“. Und in der Steigerungsform von „Pleitewelle“ – wie jüngst, als das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) die Herbstzahlen vorstellte.
Tatsächlich ist die Zahl der Insolvenzen in Deutschland zuletzt sprunghaft angestiegen. Das Institut spricht von 1.530 Pleiten, dem höchsten Oktober-Wert seit 20 Jahren. Steffen Müller, Leiter der Insolvenzforschung, führt das auf die anhaltende konjunkturelle Schwäche zurück sowie auf stark gestiegene Lohn- und Energiekosten. Auch gebe es Nachholeffekte aus der Pandemie, als insbesondere schwächere Firmen durch staatliche Hilfen massiv gestützt wurden. So seien Insolvenzen hinausgezögert worden, sagt er.
Eine Insolvenz bedeutet nicht immer das Aus
Thomas Schulz von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform in Dresden relativiert: „In Sachsen ist der Anstieg von Januar bis Oktober mit plus elf Prozent gegenüber der gleichen Vorjahreszeit nur halb so hoch wie in ganz Deutschland.“ Selbst wenn am Jahresende um die 850 Pleiten stünden, sei das kaum ein Drittel der 2.765 Pleiten aus dem Jahr 1998. Bau, Handel und Gastgewerbe seien besonders betroffen.
Was im Januar spektakulär mit der dritten Pleite von Galeria Karstadt Kaufhof begann, setzte sich mit anderen namhaften Adressen fort: dem Reiseriesen FTI, dem Modekonzern Esprit, der Naturkosmetik-Kette The Body Shop, den Süßwaren-, Kaffee- und Teefirmen Hussel, Arko und J. Eilles, dem Schokoladen- und Konditorspezialisten Leysieffer. Die wenigsten klammen Unternehmen können – wie die Meyer-Werft in Papenburg – auf den Einstieg des Staats hoffen, um gerettet zu werden.
Doch nicht immer bedeutet eine Insolvenz wie beim Buch- und Nonfood-Händler Weltbild das Aus. Zwischen Erneuerung in Eigenregie, Verkauf und Geschäftsaufgabe ist die Bandbreite groß. Auch in Sachsen gibt es viele Unternehmen, für die das vermeintliche Ende ein neuer Anfang war.
Eisenwerk in Schwarzenberg gelingt der Neustart
Die Eisenwerk Erla GmbH in Schwarzenberg hat ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Für das 1380 gegründete, älteste Unternehmen im Freistaat war es 2022 finanziell eng geworden. Die Gießerei, lange meist als Automobilzulieferer tätig, hatte sich in den letzten Jahren breiter aufgestellt und neue Kunden in den Bereichen Landwirtschaft, Baumaschinen, Elektroinfrastruktur und Maschinenbau gewonnen. Die Transformation wurde jedoch durch Corona, Ukraine-Krieg, gestörte Lieferketten und die Preisexplosion bei Rohstoffen und Energie unterbrochen. Folge: Umsatzeinbruch und Millionenverlust.
Wegen drohender Zahlungsunfähigkeit entschlossen sich die Erzgebirger für ein Schutzschirmverfahren mit Beteiligung eines Sachwalters. Der Geschäftsbetrieb lief uneingeschränkt weiter. Erfolgreiche Gespräche mit über 50 Kunden zu Vertrags- und Preisanpassungen waren Grundlage für die Sanierung in Eigenverwaltung. Im März 2023 eröffnet, konnte das Verfahren bereits gut vier Monate später wieder aufgehoben werden – durch einstimmige Annahme des Insolvenzplans.

Quelle: Wolfgang Schmidt
Der Preis war hoch: für die Gläubiger, die auf einen Großteil ihrer Forderungen verzichteten und für die Belegschaft, die um etwa 90 auf 220 Beschäftigte schrumpfte, zumeist mussten Leiharbeiter gehen. Doch das Entscheidende: Das Traditionsunternehmen im Erzgebirge bleibt am Markt.
Gut ein Jahr nach Aufhebung des Verfahrens stabilisiert sich die Nachfrage auf niedrigem Niveau, sind die Kunden entscheidungsfreudiger als während der Insolvenz, vertrauen sie auf eine Zukunft des einstigen VEB, der ab 1994 unter der Familie Schubert & Salzer aus Ingolstadt weitergeführt wurde und seit 2007 in indischer Hand ist: zunächst der Sanmar Group und seit 2011 der Dynamatic Group.
Noch ist das Eisenwerk weit entfernt von den 70 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2018/19, doch es geht aufwärts. Geschäftsführer Enrico Fischer hofft auf ein Jahresgeschäft von 50 Millionen Euro. Dass sich das Unternehmen wieder berappelt habe, sei die Leistung der gesamten Belegschaft. Allerdings gibt es neues Ungemach. „Heute leiden wir unter Nachfragemangel, hohen Energie- und Netzkosten sowie Berliner und Brüsseler Bürokratie“, so Fischer. Zudem fänden die Gewerkschaften „keine Balance mehr bei ihren Lohnerwartungen“, sagt der Firmenchef mit Blick auf den jüngsten Abschluss der IG Metall, der auch Folgen für den eigenen Haustarif habe. Die Gießerei stehe im internationalen Wettbewerb und unter enormen Kostendruck.
Leipziger Bio-Kette rettet sich im Schutzschirmverfahren

Quelle: Andre Kempner
Nicht allein die Industrie ist in Schwierigkeiten geraten, auch der Einzelhandel durchlebt herausfordernde Zeiten. Malte Reupert bekommt das jeden Tag zu spüren. Der Geschäftsführer der Leipziger Handelskette Biomare gibt offen zu: „Die gesamtwirtschaftliche Lage trifft uns derzeit hart.“ Reupert beobachtet eine Kaufzurückhaltung bei Bio- und Gourmetlebensmitteln, die den Kern seines Geschäfts ausmachen. Mit schwierigen Situationen hat das Leipziger Unternehmen, das drei Filialen in der Messestadt betreibt, inzwischen aber Erfahrungen gesammelt.
Die Leipziger haben ein Insolvenzverfahren durchgemacht, genauer: ein Schutzschirmverfahren. Es ist ein gerichtliches Sanierungsverfahren, das von der Insolvenz bedrohten Unternehmen eine Reorganisation in Eigenverwaltung ermöglicht. Dieses spezielle Insolvenzverfahren soll die Sanierung von Unternehmen erleichtern und ein frühzeitiges Eingreifen ermöglichen.
Seit Mai 2023 ist das Verfahren laut Reupert abgeschlossen. Sein Beispiel zeigt: Ein Insolvenzverfahren muss längst nicht das Ende sein. Reupert drückt das so aus: „In der Krise liegt immer auch die Chance, seine Fehler zu erkennen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und besser zu werden.“
Ohne Einschnitte ging es auch bei Biomare nicht. So musste eine Filiale vollständig geschlossen werden. Einerseits habe man das bedauert, „wirtschaftlich war das aber gut, weil die Filiale monatlich 20.000 Euro Verlust machte.“
Durch die Restrukturierung hat es das Unternehmen wieder in ruhigeres Fahrwasser geschafft. „Wir haben jetzt in vielen Bereichen eine höhere Produktivität, eine bessere IT, schlankere Organisationen und in erstaunlich kurzer Zeit viel eingespart“, erzählt Reupert. Gut 80 Leute beschäftige er derzeit, zuvor waren es bis zu 140.
Reupert sieht sein Unternehmen auch nach Abschluss des Verfahrens noch nicht am Ende der Entwicklung. „Was wir tun müssen, ist die technische Entwicklung zu meistern – sei es bei IT oder der Verschmelzung von stationärem Handel und Online-Handel – und neue Konzepte zu entwickeln.“
Auch persönlich hat er in der Zeit etwas gelernt. „Das Wichtigste ist: Viele Unternehmen und Menschen stehen sich mit ihrem eigenen Ego im Weg.“ Auch er habe damit gekämpft. Doch es helfe, ein paar Schritte zurückzugehen und demütig zu sein. „Das Leben ist nicht zu Ende; man hat Freunde und Familie, auch wenn es schiefgehen sollte.“
„Unternehmer-Retter“: „In Deutschland verbinden viele das Scheitern mit persönlichen Vorwürfen“
Ulrich Kammerer weiß, wie es sich anfühlt, sein Lebenswerk zu verlieren – und er will anderen helfen, das zu verhindern. Im ersten Leben hatte er eine Unternehmensgruppe für Hochschulverwaltungs- und Bibliothekssoftware sowie SB-Terminals, war nach eigenen Angaben Europas Marktführer und an gut 50 Hochschulen vertreten. Interne Streitigkeiten endeten in der Insolvenz. Der zweite Anlauf in der IT-Branche mit zwischenzeitlich 700 Mitarbeitern hat ihn wegen eines angeschlagenen französischen Großkunden erneut in die Krise geführt. Aber Kammerer konnte sich durch selbst erlerntes Wissen zum Schutzschirmverfahren daraus befreien. Damit hat der Mann aus Ettlingen seine Mission gefunden, Ausbildungen absolviert und ist nunmehr als staatlich geprüfter und zertifizierter Sanierungsberater und selbst ernannter „Unternehmer-Retter“ unterwegs.
Kammerer verweist darauf, dass die Stigmatisierung von wirtschaftlichen Problemen oft mögliche Lösungen verhindert. „In Deutschland verbinden viele das Scheitern eines Betriebs mit persönlichen Vorwürfen, Schuldzuweisungen und einer sozialen Stigmatisierung“, sagt er. Mit solcher Schamkultur übersehe ein großer Teil der Unternehmerschaft, dass ökonomische Rahmenbedingungen wie hohe Zinsen und geopolitische Spannungen, oft unkontrollierbare Faktoren darstellten und Insolvenz deshalb ein normaler Zustand im Lebenszyklus von Unternehmens sei.

Quelle: Marko Förster
Stefan Ettelt sieht es ähnlich. „Das I-Wort ist mit dem Makel des Abstiegs und des Endes verbunden“, sagt der Rechtsanwalt. Als Generalbevollmächtigter hatte er 2023 die Sächsische Sandsteinwerke GmbH in Pirna bei deren Insolvenz in Eigenverwaltung begleitet. Das fast 80 Jahre alte Unternehmen war trotz Bekanntheit und prominenter Bauprojekte 2022 in eine schwere Krise geraten, das zweite Mal nach zehn Jahren. Auf seiner Referenzliste stehen auch das Berliner Schloss, Dresdens Frauenkirche und Augustusbrücke, das Humboldtquartier Potsdam, das neue Hörsaalgebäude der TU Bergakademie Freiberg, viele Brunnen und private Villen.
Der Einbruch der Bauaufträge brachte den Familienbetrieb in Schieflage. Doch dank konstruktiver und zielgerichteter Zusammenarbeit aller Beteiligten und des großen Vertrauens in das Unternehmen und seine Führung bleiben der Standort und rund 50 Jobs erhalten. Nach Informationen dieser Zeitung verzichteten die Gläubiger auf eine siebenstellige Summe und ebneten so den Neuanfang. Für Stefan Ettelt kein Einzelfall. Von den durch ihn begleiteten gut 60 Eigenverwaltungen endeten nur drei in Betriebseinstellungen. Die beiden Chefs der Sandsteinwerke wollen sich nicht gegenüber der Redaktion äußern, fürchten Nachteile, wenn das Unternehmen, das 2023 schon wieder knapp 9,2 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftete, mit der Vokabel Insolvenz in Verbindung gebracht wird.
Berater Kammerer plädiert für ein Umdenken, um Insolvenzen nicht mehr als persönliches Versagen, sondern als Teil des unternehmerischen Risikos zu begreifen. In den USA gehören sie zum Tagesgeschäft, ist die Pleite des dortigen Frischhalteboxen-Herstellers Tupperware weniger Schlagzeilen wert als im entfernten Deutschland. Für den „Wirtschaftsstandort D“ sei es entscheidend, diese Sicht zu übernehmen, um Betroffenen Perspektiven zu eröffnen und einen offeneren Umgang mit Krisen zu ermöglichen. „Ein rechtzeitig vom Unternehmer selbst eingeleitetes Insolvenzverfahren ist das genaue Gegenteil von Scheitern: Es ist ein untrügliches Zeichen, dass er intelligent alle Parameter seines Geschäfts betrachtet und seinen Betrieb ohne Scheuklappen und Vorurteile rational führt.“
Nicht nur die Entscheider beim Eisenwerk Erla haben diese Weitsicht bewiesen. So werden zu den 644 Jahren der Gießerei weitere hinzukommen. Totgesagte leben länger. Insolvenz: Krise ja, Drama nein – und schon gar kein Aus.
SZ