Dresden. Rein rechnerisch ist auf Sachsens Ausbildungsmarkt die Welt in Ordnung. Gut 9400 unversorgten Bewerbern stünden derzeit rund 10.500 offene Lehrstellen gegenüber, sagt Klaus-Peter Hansen, Chef der Landesarbeitsagentur. Noch sei die Situation für Schulabgänger „sehr komfortabel“, so Hansen bei der Präsentation der Halbjahresbilanz in Dresden. Allerdings könne sich das schon bald ändern, gebe es „in einigen Regionen erste Kratzer“ und in den Direktionsbezirken Dresden und Leipzig sogar mehr Unversorgte als freie Plätze.
Laut Arbeitsagentur hatte die Differenz zwischen Angebot und Nachfrage auch schon mal 3000 offene Stellen betragen. Der seit zwei Jahren kriselnde Arbeitsmarkt schlage langsam auch beim Lehrstellenangebot durch, heißt es. So seien 1200 Stellen weniger gemeldet worden als vor einem Jahr – bei nahezu gleicher Bewerberzahl. Da die Mitteilungen freiwillig seien, „decken sie etwa 80 Prozent des gesamten Kuchens ab“, sagt Hansen.
Speeddating in Dresdens Straßenbahn
Der Agenturchef führt die Zurückhaltung auf die allgemeine Unsicherheit in der Wirtschaft zurück. Er lobt jene Unternehmen, die sich trotz der Krisen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen – teils über den eigenen Bedarf hinaus. Nach der Statistik der Arbeitsagentur haben 17.000 der gut 100.000 Unternehmen im Freistaat Azubis – nur gut jeder sechste Betrieb. „Mir machen jene Firmen Sorge, die immer noch nicht verstanden haben, dass Investition in den Nachwuchs ein wichtiges strategisches Standbein ist“, sagt Hansen. Wer Fachkräftemangel beklage, aber selbst nicht ausbilde, sollte sich kritisch hinterfragen.
Dem Agenturchef liegt Panikmache fern. Noch ist Sachsen weit entfernt von Zuständen des Jahres 2005. Damals hatte es 54.000 Bewerber für 24.000 Lehrstellen gegeben. „Aber wir bereiten uns darauf vor, wenn die Differenz noch kleiner wird“, sagt Hansen. Florian Riedel, einer von 200 Berufsberatern der Landesarbeitsagentur, spricht von neuen Wegen und „systematischem Support bis zum Ende der Schulzeit“. Er nennt Angebote vor Ort, digitale Hilfen wie den Check-U-Selbsttest zur Berufsorientierung sowie Speeddatings zwischen Interessenten und Unternehmen in der Dresdner Straßenbahn und in einem Riesenrad.
Ein Drittel tummelt sich in den Top-10-Berufen
Einige Schulen werden selbst aktiv. Im Dresdner Campus Cordis, der auf individuelles und selbstreguliertes Lernen orientiert, stellen beispielsweise Eltern im Unterricht ihre Berufe vor. Zudem pflegt jene erst drei Jahre alte Gemeinschaftsschule eine enge Kooperation mit der Handwerkskammer und benachbarten Unternehmen und ermöglicht in der 8. und 9. Klasse mehrwöchige Betriebspraktika.
Im Campus lernen Kinder aller Anforderungsniveaus gemeinsam und unabhängig ihrer in der 4. Klasse erhaltenen Bildungsempfehlung. Sie sind in einer Klasse, bekommen aber unterschiedliche Aufgaben. In der 9. Klasse können die Jugendlichen den Hauptschul- und in der 10. Klasse den Realschulabschluss erlangen und in der 12. Klasse das Abitur ablegen. Die staatliche Gemeinschaftsschule, eine von bislang zwei im Freistaat, setzt auf individuelles und selbstreguliertes Lernen.
Für den Nachwuchs würden Sinn und Nachhaltigkeit bei der Berufswahl immer wichtiger, sagt Arbeitsagenturchef Hansen. Schulabgänger könnten zwischen 330 Ausbildungsberufen wählen, aber ein Drittel konzentriere sich auf die Top-10. Mädchen wollten meist „was mit Menschen“ machen und Jungs „was mit Technik“. Ganz oben in der Gunst: Verkäufer/in und Kfz-Mechatroniker/in. Andererseits gibt es in Fleischereien 25 und im Beton- und Stahlbau 23 freie Lehrstellen pro Bewerber.
SZ