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Sachsen pfeift auf den Rat der Forscher

Das IWH plädiert dafür, im Osten statt des ländlichen Raums nur Städte zu fördern. Die Folge: ein Sturm der Entrüstung.

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Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall hat der hallesche Wirtschaftsforscher Reint Gropp mit drei Jahrzehnten ostdeutscher Wirtschaftspolitik abgerechnet – und mit seinen Empfehlungen bei den Adressaten für Empörung gesorgt. Der Leiter des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung (IWH) hatte am Montag die Subventionspolitik der nicht mehr ganz neuen Bundesländer kritisiert und eine Kehrtwende gefordert: Statt „auf Teufel komm raus“ Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu erhalten, sollten Fördergelder vor allem in Städte, besonders produktive Unternehmen und in die digitale Infrastruktur für junge Dienstleister fließen, sagt der Ökonom. Das Bestehen auf gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland habe in die Irre geführt.

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) nennt die Wortmeldung „unverantwortlich und unseriös“. Auch Wissenschaft habe eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Politik habe den Auftrag, für Ausgleich zu sorgen. „Unsere Aufgabe ist es, dass die Menschen überall eine hohe Lebensqualität haben – egal ob im ländlichen Raum oder in den Ballungszentren“, sagt Dulig. Die Menschen wollten gute Arbeit haben, Bildungs- und Kulturangebote, eine gute Infrastruktur. Das IWH habe sich „einen Bärendienst erwiesen“.

Auch Gropps Forscherkollege Joachim Ragnitz hält mit Kritik nicht hinterm Berg. „Wirtschaftspolitik kann sich nicht darauf beschränken, die gesamtwirtschaftliche Produktivität maximieren zu wollen, sondern sie darf und muss auch andere Ziele verfolgen – die Schaffung von Arbeitsplätzen ebenso wie den Abbau regionaler Disparitäten“, erklärt der Vizechef der Dresdner Niederlassung des Ifo-Instituts. „Deshalb kann ich weder die Problembeschreibung des IWH noch die abgeleiteten politischen Empfehlungen unterstützen.“

Natürlich müsse die Politik gerade im Osten dazu beitragen, die regionale Wirtschaftskraft auch in der Fläche zu stärken, sagt Ragnitz. „Das geht am besten mit einer breit angelegten Wirtschaftsförderung, die es den Unternehmen überlässt, an welchem Standort sie tätig werden. Eine Konzentration auf die regionalen Wachstumszentren oder auf ohnehin schon besonders leistungsfähige Unternehmen würde letzten Endes zum Ausbluten weiter Teile Ostdeutschlands führen, und wäre damit völlig kontraproduktiv.“

Die Vereinigung der sächsischen Wirtschaft (VSW) sieht es ähnlich und weist die Ratschläge zurück, „weil sie regionalökonomische Zusammenhänge verkennen und für die künftige Entwicklung Sachsens kontraproduktiv sind“. Auch dem Großteil der Einwohner und Wähler in Sachsen, von denen zwei Drittel im ländlichen Raum zu Hause sind, seien sie nicht vermittelbar.

„Es ist richtig, allerdings auch keine neue Erkenntnis, dass der Osten Deutschlands – auch Sachsen – in wichtigen volkswirtschaftlichen Kennziffern nicht aufholt“, sagt Arbeitgeberpräsident Jörg Brückner. Das liege an der zu kleinteiligen Wirtschaft, geringeren Leistungen in Forschung und Entwicklung, zu wenig eigenen Produkten und Patenten und daran, „dass unsere Betriebe als reine Produktionsstandorte oftmals immer noch verlängerte Werkbänke sind“. Brückner verweist darauf, dass vier von fünf Industriebetrieben mit 77 Prozent aller Industriebeschäftigten in den Landkreisen ansässig sind. Drei Viertel des Wachstums im verarbeitenden Gewerbe Sachsens würden dort erzielt. In den kreisfreien Städten werde das Wachstum zu fast 40 Prozent von öffentlichen und sonstigen Dienstleistungen getragen, also von Wirtschaftsbereichen, die überwiegend aus Steuern und Abgaben finanziert seien. Der VSW-Präsident fordert, dass auch auf dem Land die infrastrukturellen Voraussetzungen bei Bildung, Verkehr, Digitalem und Sozialem gesichert und optimiert werden.

„Die Idee, ländliche Räume von der Wirtschaftsentwicklung abzukoppeln, ist absurd und geht an der Lebenswirklichkeit vorbei“, sagt Anne Neuendorf, stellvertretende Vorsitzende des DGB Sachsen. Fakt sei: „Industriearbeitsplätze sind unverzichtbar, um die Produktivität zu entwickeln. Das gilt in jeder Wirtschaftsregion.“

Trotz der gegenteiligen IWH-Expertise sagt sich Sachsen: „Weiter so!“ Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hält an der Strategie fest, sowohl die Metropolen als auch die Regionen zu entwickeln. „Die Sächsische Staatsregierung setzt große Anstrengungen in die Stärkung des ländlichen Raums. Wir haben höhere Förderquoten für Unternehmensansiedlungen außerhalb der Metropolen und haben die Entscheidung getroffen, alle Orte an das schnelle Internet anzuschließen“, sagt er.

Für seinen Kabinetts- und Parteikollegen Thomas Schmidt sind die ländlichen Räume „keine Problemregionen, sondern Regionen mit Potenzial“. Deswegen sei es die richtige Strategie, alle Regionen maßgeschneidert zu unterstützen: durch Leader-Mittel, die passgerecht für die Bedürfnisse vor Ort genutzt werden können, oder den simul+Ideenwettbewerb – „eben weil es so tolle Ideen für unsere ländlichen Regionen von den Menschen gibt“, so der Staatsminister für Umwelt und Landwirtschaft. Die besten der gut 330 eingereichten Ideen werden am Montag mit insgesamt 4,85 Millionen Euro ausgezeichnet. Das Preisgeld muss von den Gemeinden binnen zwei Jahren für die Projekte verwendet werden. Einmal mehr falsch investiertes Geld?

 

Von Nora Miethke & Michael Rothe & Andrea Schawe  

Foto: © Foto: Miriam Schönbach/dpa
 

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