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Vom Schulabbrecher zum Chef von 6.000 Leuten

Mustafa Tonguc hat es geschafft: Er ist Deutschland-Chef von DHL Express. Nichts Besonderes? Doch, denn der Mann ist ein Schulabbrecher mit Migrationshintergrund.

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Mann steht vor einem DHL-Gebäude.
An ihm kommt keiner vorbei: Mustafa Tonguc, Chef von DHL Express Germany, beim Besuch in Klipphausen. Ein Typ von der Basis für die Basis. Foto: Veit Hengst

Von Michael Rothe

Leipzig. Es gibt sie noch und auch in Deutschland: die Storys, wie man es von ganz unten nach ganz oben schafft – sozusagen vom Tellerwäscher zum Millionär. Mustafa Tonguc ist so einer, für den sich dieser American Dream erfüllt hat. Besser: Er hat ihn sich erfüllt: mit der eigenen Hände Arbeit und entscheidender Weichenstellung in Sachsen. Seit einem Jahr ist er Deutschland-Chef der Express-Sparte von DHL, dem weltweit führenden Logistikanbieter.
Mit der Karriere ging es nicht ganz so schnell wie mit den Sendungen. Wie sie verlief, erzählt der 45-Jährige beim Besuch des Firmenstandorts im Gewerbegebiet Klipphausen bei Dresden. Dort laufen täglich 6.000 Sendungen übers Band – via Nürnberg und Flughafen Leipzig-Halle in die und aus der ganzen Welt. Für Kunden, die es eilig haben, Ersatzteile, Dokumente oder medizinische Proben brauchen: wie der Chiphersteller Infineon, der Druckmaschinenbauer Koenig & Bauer, die Online-Druckerei Saxoprint, Dresdens Uniklinik, aber auch kleinere Betriebe und Privatleute mit nötigem Kleingeld. Das Paketzentrum an der Autobahn 4 gehört zu bundesweit 38 Servicecentern und zehn Hubs mit gut 6.000 Beschäftigten und 80.000 Geschäftskunden, die Mustafa Tonguc verantwortet.

In Wiesbaden aufgewachsen
Wie es der Zufall will: Der Managing Director ist exakt so alt wie die von den Amerikanern Dalsey, Hillblom und Lynn 1969 gegründete Firma DHL – heute Mutter- und Weltkonzern mit über 500.000 Mitarbeitenden in über 220 Ländern und 82 Milliarden Euro Jahresumsatz.
Als Sohn von türkischen Gastarbeitern in Wiesbaden geboren und aufgewachsen, sei er „ein ganz normaler Junge gewesen“ mit Partys und allem Drum und Dran, blickt der Hesse zurück. Er habe sein Taschengeld als Pizzabote aufgebessert, dem Onkel in dessen Kiosk geholfen und der Mutter am Wochenende bei ihrem Putzjob. „Eines Tages mit 18“ habe ihn sein älterer Bruder, der bei DHL am Frankfurter Flughafen gearbeitet hat, überredet, dort für einen Job vorzusprechen. Tonguc erinnert sich genau an den richtungweisenden Samstag.
Er arbeitete nachts, an Wochenenden, hat dazwischen sein Fachabitur im Maschinenbauwesen gemacht. „In dieser Zeit habe ich gelernt, dass ich aus der Komfortzone muss, wenn ich Karriere machen will“, blickt er zurück.
Sein Pensum verlagerte sich in die Woche. Die Folge: Er hat die Schule hingeschmissen. „Das war sehr schwer für meine Mutter“, sagt Tonguc, dessen Eltern Ende der 1960er-Jahre nach Deutschland gekommen waren und in einer Fabrik geschuftet haben, damit ihre vier Kinder eine gute Ausbildung für ein besseres Leben bekommen.
Doch trotz des Abbruchs gab es für ihn mit 22 bei der Posttochter die erste Führungsrolle: als Supervisor von 17 Leuten aus mehreren Ländern – gleichbedeutend mit 13 Jahren Nachtschicht. Ein Nachteil: „Es war schwierig, privat Freunde zu haben.“ Wenn er nach der Schicht mit Kollegen ein Bier getrunken habe, seien sie schief angeschaut worden, sagt er. „Es war ja morgens kurz nach sechs.“ Es ging aufwärts, „irgendwann habe ich die ganze Nachtschicht geleitet“.
Dann sei er gefragt worden, ob er nicht bei „Pegasus“ mitmachen wolle – Projektname für den Aufbau des DHL-Luftfrachtkreuzes im Flughafen Leipzig-Halle. 2007 ist er dort gelandet und hat das Control-Center am Hub mit aufgebaut. Das Leipziger Frachtkreuz ist mit rund 7.000 Beschäftigten, jährlich 23.600 Flügen und täglich über 2.500 Tonnen Fracht das Herz der weltumspannenden DHL-Logistikkette. Nach Anfangsquerelen laufe es dort wie ein Uhrwerk, sagt Tonguc. „Immer, wenn ich von Frankfurt aus zum modernsten Standort komme, habe ich feuchte Augen“, sagt er.
Für ihn kamen weitere Aufgaben wie Qualitätskontrolle und Kundendienst hinzu. Eines Tages führte er den European Head durch den Komplex – und erhielt zwei Tage später das Angebot, für ihn zu arbeiten. „Wenn es irgendwo Probleme gab, wurde ich hingeschickt, um mit den Teams die Performance zu verbessern.“ Er sei in der Welt herumgekommen, meist auf dem Klappsitz eines Frachtfliegers, und habe viel gelernt – auch in Sachen Arbeitskultur und Kommunikation, so der Manager, der in Bonn lebt und auch in Leipzig Freunde hat.

Zurück in die Heimat der Eltern
Dann der nächste Anruf: „Musti, wir brauchen dich in der Türkei.“ Er sollte in der Heimat der Eltern das DHL-Netz neu aufbauen. Der Job sei für ihn, der mit deutscher Arbeitsmoral und Disziplin großgeworden ist, „ein Kulturschock gewesen“, so Tonguc. Zwar habe er viele türkische Wurzeln, doch werde in der mittlerweile gut 30-köpfigen Großfamilie fast nur noch Deutsch gesprochen.
Wenn deutsche gegen türkische Mannschaften Fußball spielen, ist der Mann mit zwei Pässen immer für beide. „Da kann ich nicht verlieren“, sagt er und lacht. Aber in der Regel schlage sein Herz für die Schwächeren – auch im richtigen Leben. Er habe in der Türkei erfahren, wie sich syrische Kriegsflüchtlinge fühlen und gespürt, was es heißt, Minderheit zu sein. Und er habe sich für ihre Ablehnung durch seine Landsleute geschämt. Aus den dort anfangs veranschlagten drei Monaten wurden fast zehn Jahre.
Nun also der vorerst letzte Schritt auf der Karriereleiter: die Verantwortung für DHL Express Deutschland – fünftgrößter Markt nach den USA, China, Großbritannien, Italien. Der Managing Director hat schon im ersten Jahr alle Standorte besucht – Klipphausen als einen der letzten. „Das macht Spaß, da tobt das Leben“, sagt er. Wenn man den ganzen Tag im Bonner Headoffice sitze, sei man weit weg vom Geschehen. Für Tonguc ist es nach eigenem Bekunden wichtig, sich vor Ort über Abläufe zu informieren; über Probleme, Sorgen der Beschäftigten, sie mitzunehmen, zu motivieren, ihnen Respekt und Wertschätzung entgegenzubringen.
„Ich will eine Arbeitskultur schaffen, in der jeder Spaß hat“, sagt der Kumpeltyp, den alle nur „Musti“ nennen, und: „Ich lebe durch und durch Equity.“ Die Beschäftigten nehmen es ihm ab, weil sie es erleben. Von einem, der Drecksarbeit kennt, den Job von der Pike gelernt hat, der authentisch ist – ohne distanziertes und elitäres Gerede.
Tonguc will etwas bewegen. Er weiß, dass sein Job ein Wanderzirkus ist. In Deutschland habe er aber „noch mindestens vier, fünf Jahre zu tun“, zumal das Expressgeschäft mit Gegenwind kämpft. Angesichts weltweiter Krisen geht das Sendungsvolumen zurück. Daher braucht es mehr Produktivität, Netzwerkoptimierung, effektives Ertrags- und Kostenmanagement. Das kann Tonguc, der sich neben beiden Muttersprachen auch Englisch, Italienisch, Französisch verständigen kann – und nach sieben Jahren in Leipzig sogar Sächsisch versteht.
Sein Ziel: Mit Deutschland mindestens einen Platz nach oben rücken, profitabler wachsen, zehn neue, kleinere Standorte zwischen den großen. Wo sich Player wie Intel ansiedelten, wolle auch DHL Express sein, sagt er und hofft, dass auch das Center in Klipphausen bald zu klein ist. Investieren sei einfach. Der Pragmatiker ist bereit für neue, auch noch größere Aufgaben. Den Segen von Ehefrau, Hund und Katze hat er.
„Karriere kann man, wenn man gut ist, überall machen“, sgt er. Aber es gehe um mehr. Logistik sei finanziell nicht die attraktivste Branche. „An der Börse, als Versicherungs- oder Immobilienmakler würde ich definitiv mehr verdienen“. Es sei das Internationale, was ihn bei DHL halte, und dass man dort als Mensch geschätzt werde. Nur deshalb habe er eine solche Karriere machen können. Anderswo sei es nicht so einfach, als Schulabbrecher und mit türkischer Herkunft ein deutsches Geschäft zu führen.
Zu seinem Erfolg brauchte es Fleiß, Mut, richtige Entscheidungen, Vorgesetzte, die sein Talent erkannt und gefördert haben – aber auch eine Portion Glück. Einen Tipp hat der Aufsteiger dann noch für mögliche Nachahmer: „Ich rate keinem, leichtfertig die Schule aufzugeben.“

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