Zweimal hat James Turner der Blitz getroffen. Der erste ins Herz, der zweite in den Kopf. Es waren diese Art Blitze, die alle Unklarheiten beseitigen. Sie beleuchten völlig unerwartet Wege, die frappierend logisch erscheinen. Viele Menschen warten ihr Leben lang auf einen solchen besonderen Moment. Andere erleben ihn zwar, aber zögern zu lange. James Turner ließ keine Chance verstreichen. Das hat sein Leben verändert.
Hätte, wäre, wenn. Wenn James nicht Zweifel beschlichen hätten, dann wäre er das geblieben, was er gelernt hat: Schauspieler. Mehr oder weniger glücklich mit großen oder kleinen Rollen stünde er auf Bühnen und vor der Kamera. Allerdings nicht in Deutschland, nicht in Dresden, sondern irgendwo in den USA vermutlich.
Dort ist der 31-Jährige groß geworden, in Massachusetts. Sein Vater ein Regisseur, der Dokumentationen für National Geographic drehte, die Mutter Agraringenieurin, so wuchs James in einer liberalen, fortschrittlichen Familie auf, in der die Neugierde auf die Welt zum Alltag gehört. Nach der Schule ging er nach New York und begann 2005 sein Schauspielstudium. "Schauspieler zu sein, ist ein schöner Beruf", sagt James heute. "Doch ständig wird dir gesagt: Tu dies, lass jenes, sei so – aber bleibe du selbst!"
Das erzählt James in korrektem Deutsch. Dabei sprach er die Sprache nicht, als ihm dieser Widerspruch auf die Nerven zu gehen begann. Er ahnte auch nicht, dass er einmal mit Lupe am Auge über winzige Bauteile edler Luxusuhren gebeugt in den Werkstätten von Lange & Söhne in Glashütte sitzen würde. Uneins mit der Schauspielbranche entschied er sich 2011 für eine Auszeit und reiste für drei Monate nach Europa. Damit hat sich bereits aufgeladen, was später als Blitz in ihn fahren sollte.
Ein Missgeschick brachte ihm in Frankreich die Bekanntschaft eines Mannes ein, der ihm aus der Patsche half. "Ich hatte meinen Bus verpasst und wusste drei Uhr nachts nicht wohin", erinnert er sich. Sein Gastgeber bot ihm nicht nur ein Obdach an, sondern auch einen guten Rat: Wenn James nach Deutschland komme, soll er sich unbedingt Dresden ansehen.
Der Weg dort hin wurde zur ersten großen Wegbiegung in seinem Leben: "Im Auto einer Mitfahrgelegenheit von Stuttgart nach Dresden habe ich eine extrem schöne Frau kennengelernt, die mich vom ersten Moment an faszinierte, und mich fünf, sechs Stunden mit ihr unterhalten." Am Ziel bot sie dem Reisenden an: "James, ich zeige dir die Stadt." Sarah, die Touristikfachfrau, folgte ihm bald nach Hawaii, wo James geboren worden ist und nach seiner Europatour von einer Strandhütte aus fragend aufs Meer schaute. Was wollte er mit seinem Leben anfangen? Eins aber war ihm klar: "Nach Sarahs Besuch habe ich zu meinem Vater gesagt: Diese Frau werde ich heiraten."
Jetzt steht James Turner im exakt sitzenden Anzug, mit Krawatte und Einstecktuch in der neuen Boutique von Lange & Söhne am Neumarkt. Die Liebe zu seinem neuen Beruf hat ihn gefunden wie die zu Sarah. "Nach unserer kleinen Hochzeit mit nur drei Freunden waren wir ein halbes Jahr lang getrennt und versuchten eine Greencard zu bekommen." Doch allein die Bewerbung ist 6 000 Dollar teuer. Schließlich gab er seinen gut bezahlten Job als Barkeeper in einem Luxushotel auf und entschied sich für einen Neustart in Halle/Saale, wo seine Frau studierte. "Ich bin heute noch dankbar und gerührt, wie problemlos das ging", sagt James. Anfang 2014 begann er, intensiv Deutsch zu lernen, jobbte für Promotionsfirmen, lernte dabei Bands wie Santiano und Fettes Brot kennen. "Aber irgendwie war es mir wichtig, diesem Land, das mich so gut aufgenommen hat, etwas zurückzugeben." Deshalb absolvierte James Turner ein Jahr im Bundesfreiwilligendienst und arbeitete in einem Wohnprojekt für Jugendliche. "Für mich war das eine neue Perspektive, und zugleich konnte ich miterleben, wie diese jungen Leute neue Perspektiven für sich entdecken." Derweil hatte sich seine noch stärker verändert: James und Sarah bekamen ein Kind. Ihr Sohn ist inzwischen vier Jahre alt und hinter seinem Vater liegt eine komplett neue Ausbildung.
"Wir haben die Ausbildungsmesse Karrierestart besucht, dort wollte ich mich über Berufe informieren, die mich interessieren könnten", erzählt er. Wie wäre es mit Uhren, habe seine Frau nach endlosem Herumschweifen von Messestand zu Messestand zu ihm gesagt und ihn zur Präsentation der Uhrenmanufaktur Lange & Söhne geführt. "Dort hat mich zum zweiten Mal der Blitz getroffen", sagt James Turner. Zum ersten Mal in seinem Leben hielt er eine mechanische Uhr in der Hand. "Das hat mich richtig bewegt, und ich dachte: So etwas will ich herstellen können."
Mathe ist für die Ausbildung gefragt, handwerkliches Geschick und außerordentliches Fingerspitzengefühl, Geduld und die Fähigkeit, an einem Gemeinschaftsprodukt auch sehr lange und konzentriert allein zu arbeiten. Den Unterricht in deutscher Sprache absolvierte James mit Bravour. Heute ist er Uhrmacher mit einer der besten Referenzen weltweit – sie heißt Lange & Söhne. Seinen Traumberuf hat er nun als Verkäufer dieser besonderen Uhren gefunden. "Ich weiß von der Pike auf, wie sie funktionieren, spreche fließend Englisch und liebe Kommunikation", sagt James und lacht: "Als Verkäufer auch ein kleines bisschen Schauspieler zu sein, ist gar nicht so schlecht."
Von Nadja Laske
Foto: Christian Juppe