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Warum eine Agrargenossenschaft in Sachsen ihre Kühe abschafft

Eine bäuerliche Genossenschaft bei Radeburg schafft ihr Milchvieh ab. Kein Einzelfall, obwohl Bauern gerade Höchstpreise erzielen. Und woher kommt jetzt unsere Milch?

Lesedauer: 6 Minuten

Man sieht Bauer Denis Thomas in seinem leeren Milchkuhstall
Denis Thomas im leeren Milchkuhstall. Der Vorstand der Agrargenossenschaft Radeburg fordert mehr Zeit für den Strukturwandel in der Landwirtschaft. © Arvid Müller

Von Gunnar Klehm

Denis Thomas ist ein pragmatischer Mensch. „Wir passen uns immer wieder an neue Situationen an“, sagt der 44-jährige Bauer. „Aber das jetzt geht zu schnell.“ Und damit meint er nicht den aktuellen Wetterumschwung.

Mit seinen kräftigen Händen packt der Landwirt den Stiel einer Heugabel, stößt mit nachdenklicher Mine tief in den Haufen trockener Halme vor sich und schiebt ihn hin zur vorletzten Kuh, die noch in dem großen Stall in Großdittmannsdorf bei Radeburg steht. Mit großen Kugelaugen schaut das Rind die seltenen Besucher an. Im Stall ist es ruhig geworden.

Alle anderen Boxen sind ausgemistet und verwaist. Bis vor Kurzem standen hier noch 200 Milchkühe, schmatzten ihr Heu und muhten sich durch den Tag. Doch das Ganze rechnete sich von Monat zu Monat immer weniger. „Die Milchproduktion haben wir jetzt nach über 60 Jahren aufgegeben“, sagt Thomas. Wehmut schwingt in seiner Stimme mit. Doch nicht nur, weil er seine Tiere mag, sondern weil es auch ein Eingeständnis des Scheiterns ist.

Dabei war alles ganz anders geplant. Die Agrargenossenschaft Radeburg, dessen Vorstand Denis Thomas ist, hat bisher immer Lösungen für jedes Problem gefunden. Der Betrieb ist wirtschaftlich gesund. Doch damit das so bleibt, war der radikale Schnitt notwendig.

Hilfe für Ortolan und Kiebitz

Die beiden Ställe für die insgesamt 400 Milchkühe in Großdittmannsdorf stammen noch aus der Zeit der LPG-Gründung in den 1960er-Jahren. Um jetzt bei der Produktion mit modernen Betrieben mithalten zu können, war ein Neubau geplant. „Es gab bereits konkrete Baupläne, und wir diskutierten eigentlich nur noch über Details“, sagt Thomas. Sechs Millionen Euro waren für den Bau vorgesehen. Eine stattliche Summe für die Genossenschaft, bei der zurzeit 30 Mitarbeiter beschäftigt sind.

Eine Herde Schlachtrinder der Agrargenossenschaft Radeburg grast entspannt auf einer Weide in Großdittmannsdorf. Das Fleisch geht in die Direktvermarktung. © Arvid Müller

Die Biogasanlage der Agrargenossenschaft Radeburg sorgt inzwischen für rund ein Drittel des Umsatzes. © Arvid Müller

Auf dieser Fläche sollte der neue Stall für die Milchkühe entstehen. Das Grundstück zu bebauen, war aber wegen des Vogelschutzes und möglicher Auflagen zu teuer geworden. © Arvid Müller

Mit dem Naturschutzbund arbeitet die Agrargenossenschaft Radeburg seit Langem gut zusammen. Genützt hat das für die Neubaupläne aber nichts. © Arvid Müller

Die Liste der Auszeichnungen, welche die Agrargenossenschaft Radeburg in den vergangenen Jahren erhalten hat, ist lang. © Arvid Müller

Eines der Details war eines zu viel. Der Neubau sollte auf einer Fläche erfolgen, die als Europäisches Vogelschutzgebiet ausgewiesen ist. Sich am Vogelschutz zu beteiligen, war noch nie ein Problem für den Betrieb. Mit den örtlichen Ornithologen wurden geeignete Flächen festgelegt, die immer mal unbewirtschaftet blieben, damit zum Beispiel der Kiebitz nötigen Lebensraum bekommt. Vom Naturschutzbund (Nabu) gab es für das Engagement ein Schild verliehen mit der Aufschrift „Hier sind Schwalben willkommen“.

„Das ist eine gute Zusammenarbeit mit der Agrargenossenschaft“, sagt Holger Oertel, stellvertretender Leiter der Nabu-Fachgruppe Ornithologie Großdittmannsdorf. So stellen die Bauern etwa Technik für die Heckenpflege zur Verfügung. Das hilft dem Neuntöter, dessen Bestände woanders zurückgehen. Von zeitweise unbearbeiteten Ackerflächen profitiert der Ortolan, ein bunt gefiederter Singvogel. Seine Nahrung sucht er auf dem Boden und gilt als gefährdete Art. Trotz aller Bemühungen, habe man bei Großdittmannsdorf aber schon mehrere Jahre lang keinen Brutnachweis des Ortolans mehr gefunden, sagt Oertel.

Handel setzt auf bessere Haltungsformen

Ungeachtet des jahrelangen Engagements sollte die Genossenschaft jetzt darstellen, wie 16 verschiedene Vogelarten durch den Neubau beeinflusst und geschützt werden können. „Allein das Gutachten dazu dürfte 50.000 bis 80.000 Euro kosten“, sagt Thomas. Das hätten Recherchen ergeben. Bei einem Europäischen Vogelschutzgebiet seien Verwaltungen die Hände gebunden. Mit Ausgleichsmaßnahmen könne man da nichts machen, wurde ihm erklärt.

Der Vogelschutz gab zwar am Ende den Ausschlag, das Neubauprojekt zu beerdigen, in das schon fast eine Viertelmillion Euro Planungskosten geflossen waren. Der einzige Grund war es aber keineswegs. „Die Rahmenbedingungen ändern sich immer schneller“, sagt Thomas.

Bislang produzierte die Genossenschaft konventionell Milch in der niedrigen Haltungsform 2. Das habe aber keine Zukunft mehr. Der Handel setzt zunehmend auf verbesserte Tierhaltung mindestens in Haltungsform 3. Dafür müsste in Großdittmannsdorf ein Stallneubau her. Der nun aber nicht kommt. Stattdessen wird die Milchproduktion gänzlich eingestellt.

Die Preise, die Bauern für ihre Milch von Molkereien bekommen, sind stark gestiegen. Die Ausgaben etwa für Energie und Mindestlohn aber auch.
© SZ Grafik / Gernot Grunwald

Die Agrargenossenschaft Radeburg ist damit kein Einzelfall. Die Bestände an Milchkühen nehmen in Sachsen seit mehr als 20 Jahren stetig ab. Standen im Jahr 2000 noch mehr als 207.000 Tiere in Ställen und auf Weiden, waren es im Vorjahr noch 164.000. Das entspricht einem Rückgang von fast 20 Prozent.

Zugleich haben mehr als die Hälfte aller Milchvieh haltenden Betriebe den Betriebszweig oder den gesamten Betrieb aufgegeben, teilt Sachsens Landwirtschaftsministerium mit. Die Zahl der Milchviehhaltungen hat sich seit der Jahrtausendwende von knapp 1.700 auf nur noch 1.040 im Freistaat reduziert. Tendenz weiter fallend.

Keine Existenzgründungen mehr

Im vorigen Jahr gab eine Genossenschaft in Ehrenberg in der Sächsischen Schweiz die Milchproduktion mit rund 200 Tieren auf, im mittelsächsischen Niederschöna waren es ebenfalls Hunderte Kühe. Auch im vogtländischen Rodau hat eine Genossenschaft die Milchproduktion eingestellt.

Neugründungen gibt es quasi keine mehr. Beim Landesbauernverband sind jedenfalls keine bekannt. „Die Investitionskosten sind hoch, und auf lange Sicht sind die Rahmenbedingungen nicht mehr einschätzbar. Existenzgründer haben es sehr, sehr schwer und brauchten mehr Planungssicherheit“, sagt Juliane Streubel, Verbands-Referentin für tierische Erzeugung.

Wird Milch etwa demnächst zum raren Gut im Kühlregal der Supermärkte? Natürlich nicht. Zum einen liefert jede einzelne Kuh viel mehr Milch als früher. „Bei uns lag die Produktion bei 12.500 Litern pro Kuh und Jahr. Das ist dreimal so viel wie in den 1960er-Jahren“, erklärt Denis Thomas. Auch wenn die Zahl der Milchkühe in Deutschland im vorigen Jahr abnahm, wurde die Menge der Milchlieferung an Molkereien auf mehr als 31 Milliarden Liter gesteigert. Der größte Teil davon geht an Verbraucher in Deutschland.

Hinzu kommen laut Milchindustrie Verband (MIV) rund eine Milliarde Liter von ausländischen Erzeugern. Also vergleichsweise wenig. Der Anteil an Frischmilchprodukten oder Käse, der ins Ausland geht, ist dagegen wesentlich höher.

Harter Wettbewerb auf dem Weltmarkt

Exportschlager ist Käse. So wurden laut MIV rund 1,36 Millionen Tonnen Käse ausgeführt. Was mehr als 38 Prozent der Gesamtproduktion bedeutet, von Molkereien zuvor importierter Rohkäse mit eingerechnet.

Auf dem Weltmarkt mitzuhalten, hat seinen Preis. Das rechnet sich nur noch für Betriebe mit großen Viehbeständen, modernen Melkanlagen oder höheren ökologischen Standards. Genau deshalb wollten die Radeburger investieren, wie es viele andere Milchbetriebe bereits taten. Sie scheiterten jedoch aus genannten Gründen.

Und das ausgerechnet in einer Zeit, als Milchproduzenten Höchstpreise erzielten. 2022 gab es das Allzeithoch mit über 53 Cent je Kilogramm für konventionelle Milch. Weil Verbraucher angesichts der Preise allerdings weniger kauften, ließ der Preis wieder nach. 2023 und auch im ersten Quartal 2024 lag er aber immer noch bei überdurchschnittlichen 45 Cent.

Doch das nütze nicht viel, erklärt Thomas. Denn mit gestiegenem Mindestlohn und hohen Energiepreisen steigen auch die Ausgaben. Die Preise für den wichtigen Dünger Kalkammonsalpeter (KAS) waren 2022 zeitweise auf das Vierfache gestiegen. Auch die Fahrzeughersteller drehten kräftig an der Preisschraube. Der 250-PS-Traktor, den Thomas 2010 noch für 101.000 Euro neu kaufen konnte, wird jetzt für über 200.000 Euro angeboten. Das konnte die Genossenschaft selbst mit ihren Hochleistungs-Kühen nicht mehr erwirtschaften.

Statistisch liefert eine Milchkuh in Deutschland rund 8.500 Kilogramm Milch im Jahr, was etwa 8.750 Litern entspricht. In Radeburg waren es fast 30 Prozent mehr. Entsprechend waren die Milchkühe begehrt. Alle sind inzwischen verkauft, die meisten nach Polen. 15 Mitarbeiter mussten entlassen werden, haben laut Thomas aber alle etwas Neues gefunden. Drei Auszubildende können ihre Lehre in einem anderen Betrieb fortführen.

Bio-Produkte haben Zukunft

Angesichts dieses Endes steckt bei der Radeburger Genossenschaft aber niemand auf. Im Gegenteil. Dieses Jahr wurde ein Tochterunternehmen, die Bio-Landwirtschaft Dresden GmbH gegründet. Zweck des Unternehmens ist es, schrittweise die Grünlandflächen der Agrargenossenschaft ökologisch zu bewirtschaften. Das sind immerhin über 600 Hektar.

Die Bio-Branche ist ein wachsender Markt. Im Vergleich zu 2008 hat sich der Umsatz im deutschen Einzelhandel mehr als verdreifacht. Die größten Steigerungsraten gab es bei Discountern. Gaben die Deutschen 2008 noch rund 5,8 Milliarden Euro für Bio-Lebensmittel aus, sind es 2023 mehr als 16 Milliarden Euro gewesen. Das geht aus Zahlen des Bunds Ökologische Lebensmittelwirtschaft hervor.

„Der Absatz steigt, es gibt höhere finanzielle Förderung, und es ist gut fürs Image des Betriebes“, erklärt Denis Thomas. Die Preise für Bio-Produkte waren zudem stabiler. Zwar hat die Agrargenossenschaft nach eigener Aussage schon jetzt Grünland, auf denen weder Pestizide noch chemischer Dünger aufgebracht wurden. Anerkannt wird das erst mit der vom Amt begleiteten und kontrollierten drei Jahre dauernden Umstellung.

Gutes Miteinander im Dorf

Die Agrargenossenschaft verdient weiter Geld mit der Produktion von Fleisch und Energie. Davon zeugen die zwei großen Faulbehälter der Biogasanlage. 34 Haushalte, ein Bürokomplex und eine Werkstatt werden darüber mit Wärme versorgt. Das macht inzwischen fast ein Drittel des Umsatzes aus. Die Zusammenarbeit verbessere auch das Miteinander im Dorf.

Statt der Gülle der eigenen Milchkühe wird nun welche von Betrieben aus der Umgebung angeliefert. In den beiden alten Ställen werden jetzt Leitungen repariert und die Wände geweißt, damit sie nachgenutzt werden können, etwa für die Aufzucht von Rindern für andere Betriebe. Die Agrargenossenschaft Radeburg werde nichts unversucht lassen, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Dabei wünscht sich Denis Thomas eines von der Politik: Die Rahmenbedingungen dürfen sich nicht schneller ändern, als Landwirte reagieren können. Deshalb seien auch einige seiner Angestellten Anfang des Jahres bei den Bauernprotesten dabei gewesen.

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