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Welche Zukunft hat die Industrie in Ostdeutschland?

Warum hinkt die Ost-Industrie dem Westen auch über 30 Jahre nach der Einheit hinterher, und welche Perspektiven hat sie? Eine IG-Metall-Tagung in Chemnitz gibt Antworten.

Lesedauer: 4 Minuten

Luftbild des VW-Werks in Zwickau-Mosel
Hochproduktive Adressen wie der Autobauer VW in Zwickau-Mosel (M.) sind im Osten seltener als im Westen. © euroluftbild.de/bernd clemens

Von Michael Rothe

Es war eine große Ankündigung von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck: 2023 solle „das Jahr der Industriepolitik“ werden, so der Grünen-Politiker vor neun Monaten. Dabei gehe es zuerst um Standortsicherung und „um Rahmenbedingungen, die es der Industrie ermöglichen, hier zu produzieren“, sagte Habeck und kritisierte zugleich eine „Lust am Herbeireden eines Untergangs“.

Doch wird die Politik ihrem Anspruch gerecht? Welche Perspektiven hat die Industrie speziell im Osten? Und welche Rolle spielen dabei regionale Transformationsnetzwerke und betriebliche Mitbestimmung? Solche Fragen wurden am Dienstag bei einer Tagung der IG Metall in Chemnitz diskutiert.

Wirtschaftskraft bei kaum 87 Prozent des Westens

Ostdeutschland gelte immer noch als strukturschwache Region – vor allem, weil die Wirtschaftskraft je Erwerbstätigen 32 Jahre nach der Wende weiter bei kaum 87 Prozent des Westniveaus liege, konstatiert der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz. Immerhin hätten Brandenburg und Sachsen-Anhalt das Saarland als schwächstes West-Bundesland überholt – im Gegensatz zu Sachsen, sagt der stellvertretende Chef des Ifo-Instituts in Dresden.

©  SZ-Grafik: Gernot Grunwald

Trotz der Strukturschwäche verliere eine spezifische ostdeutsche Regional- und Industriepolitik ihre Rechtfertigung, ist Ragnitz ´überzeugt. Gegenüber 2015 sei die Ost-Wirtschaft preisbereinigt um fast zwölf Prozent gewachsen, im Westen nur gut sieben Prozent. In der Industrie habe die Bruttowertschöpfung gar um 18 Prozent zugelegt, fast doppelt so stark wie im Westen.

Der Hauptgrund für die um 30 Prozent geringere industrielle Produktivität im Osten: Die Betriebe sind mit im Schnitt 96 zu 145 Beschäftigten viel kleiner als im Westen. Hochproduktive Chemieindustrie und Autobauer gebe es seltener, weniger produktives Nahrungsmittelgewerbe und Metallbearbeitung aber häufiger – und als verlängerte Werkbank von West-Adressen. „Man mag das bedauern, aber das ist Ergebnis der Transformationshistorie seit 1990, als es zuerst darum ging, Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, aber wenig Wert auf die Qualität der Arbeitsplätze gelegt wurde“, sagt Ragnitz. „Sich darüber zu beklagen, hilft nicht weiter, denn dass Großkonzerne den Sitz je nach Ostdeutschland verlegen könnten, ist heute ebenso wenig denkbar, wie es das damals war.“

Unternehmern fehlt Kapital und der Wachstumswille

Nach Ansicht des Experten mangelt es nicht nur an Kapital, sondern auch am unbedingten Wachstumswillen der Unternehmer. Und: Ost-Firmen setzten eher auf niedrigere Preise als auf innovative Produkte, was geringere Wertschöpfung bedeute. Laut Ragnitz ist das stärkere Ost-Wachstum auch auf Sondereffekte durch Neuansiedlungen wie des Autobauers Tesla in Brandenburg und des Solarzellenfertigers Meyer-Burger in Thalheim zurückzuführen. Die Folgen für die Beschäftigung seien gering, selbst 10.000 Leute bei Tesla machten nur 0,9 Prozent aller Beschäftigten in Brandenburg aus.

Laut Ragnitz verliert Deutschland insgesamt an Attraktivität: hohe Energie- und Arbeitskosten, lange Genehmigungsverfahren, schlechte Verkehrsinfrastruktur. Die Politik verzettle sich auf Nebenkriegsschauplätzen, statt „für die Sicherung der Grundlagen unseres Wohlstands – eine starke Industrie – zu sorgen“, moniert er.

Investitionen in Verkehrsinfrastruktur und Digitales, Bildung und Fachkräftezuwanderung seien originäre Aufgaben der Länder. „Die Unsitte, dass gerade die ostdeutschen Länder immer erst einmal nach Bundeshilfen rufen“, lenke von der grundgesetzlich geklärten Verantwortlichkeit ab.

Personalmangel ist der größte Nachteil des Ostens

Die starke Subventionierung von Tesla, Intel, TSMC habe nichts mehr mit regionaler Wirtschaftsförderung zu tun, sondern damit, dass man sie aus politischen Gründen unbedingt nach Deutschland locken wollte. Letztlich habe sich die Politik so in eine Falle manövriert, aus der es kein Entkommen gebe. Es gelte aber, bei der Förderung „die Qualität der Arbeitsplätze stärker in den Blick zu nehmen“. Wichtiger als Investitionsförderung sei eine Stärkung der Innovationskraft der Industriebetriebe. Anstelle von Förderprogrammen für Forschung und Entwicklung sollte Technologiepolitik, insbesondere auf Länderebene, eher die Teilhabe von Unternehmen an anderswo generiertem technologischen Fortschritt erleichtern – auch über Hochschulen und Institute als Mittler.

Größter Nachteil des Ostens ist für Ragnitz der wachsende Personalmangel von im Schnitt zehn bis 15 Prozent. Da Zuwanderer dort nicht gern gesehen und Niedriglöhne kein Lockmittel seien, müsse man auf Automatisierung und Digitalisierung zur Arbeitseinsparung setzen. Er ist dagegen, Firmen mit obsoletem Geschäftsmodell mit Staatshilfe am Leben zu erhalten.

IG Metall: Steuergelder gibt es nicht zum Nulltarif

Carsten Schneider (SPD), Ost-Beauftragter der Bundesregierung, verteidigt die Förder-Milliarden für die Chipwerke von Intel und TSMC „auf vergleichbarem Niveau der USA mit ihrem Inflation Reduction Act“. Der Staatsminister ist „bei allen Problemen im Osten dennoch zuversichtlich“. Nirgends gebe es so hohe ausländische Direktinvestitionen wie in Magdeburg und Dresden. Ostdeutschland werde so zum „Herz der Halbleiterindustrie in ganz Europa“. Ziel sei es gute Jobs in Zukunftsbranchen zu schaffen und zu erhalten.

Angesichts einer „Transformationserschöpfung“ in den neuen Bundesländern sei es wichtig, „die Menschen mitzunehmen“, sagt Wolfgang Lemb. Das Vorstandsmitglied der IG Metall neben Chancen auch Risiken wie den Verlust von Tradition wie beim Waggonbau Niesky und falsche strategische Entscheidungen wie bei Eickhoff in Klipphausen bei Dresden, einem Hersteller von Windkraftgetrieben. An beiden Adressen gehen die Lichter aus. „Unterstützung aus Steuergeldern gibt es nicht zum Nulltarif, sondern nur gegen Tarifbindung, Mitbestimmung, Standortzusagen und Investitionen in die grüne Transformation“, betont der Gewerkschafter.

„Gerade in Konflikt- und Krisensituationen leisten Betriebsräte durch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber einen entscheidenden Beitrag für die Belegschaft“, zitiert Uwe Jahn, Betriebsratschef der Schmiedewerke Gröditz, Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Daher müssten die Rechte der Betriebsräte ausgebaut werden: Mitbestimmung auch in wirtschaftlichen Dingen und Zukunftsfragen, fordert Jahn eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, zeitgemäße Entlohnung der Betriebsräte inklusive.

Osten bleibt noch lange eine strukturschwache Region

Zu den größten Herausforderungen gehören nach Jahns Auffassung der Fachkräftemangel und die Verfügbarkeit von bezahlbarem Strom, Erdgas und Wasserstoff. „Die Zeit ist reif für einen Industriestrompreis von fünf Cent je Kilowattstunde“, sagt der Vertreter der energieintensiven Schmiedewerke mit rund 700 Beschäftigten und 240 Millionen Euro Jahresumsatz. Und er denkt dabei auch an die Chemiebetriebe, Maschinen-und Anlagenbauer, Gießereien sowie die drei Elektrostahlwerke im Großraum Dresden.

Wirtschaftsforscher Ragnitz warnt vor Illusionen. Der Osten habe strukturelle Defizite, die sich durch die Politik weder kurz- noch mittelfristig beheben ließen. Erfahrungen des Westens zeigten, dass die meisten Regionen, die in den 1970ern als strukturschwach galten, trotz Intervention noch immer förderbedürftig seien. „Es ist deshalb davon auszugehen, dass Ostdeutschland noch lange eine strukturschwache Region bleibt – trotz einzelner Inseln industrieller Prosperität“, so seine Prognose.

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