Von Irmela Hennig
Rund 12.000 „Zeugnisse der Braunkohleindustrie“ gibt es vermutlich im Mitteldeutschen, Lausitzer und Rheinischen Braunkohlerevier. Das zumindest könnte im Ergebnis eines zweijährigen Forschungsprojektes stehen, das derzeit in den Regionen läuft. Finanziert wird die Daten- und Objekterfassung komplett von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) mit 6,7 Millionen Euro. Nicht betrachtet werden weitere Braunkohle-Abbaugebiete wie das Helmstedter Revier, das Altenburger Land oder das Oberpfälzer Braunkohlerevier. Da sehen einige Experten den Ansatz für ein Folgeprojekt. Allerdings stellte der Bund auf Nachfrage dazu nichts in Aussicht. Auf einem Kolloquium in Böhlen bei Leipzig wurden erste Ergebnisse des laufenden Projekts vorgestellt und Ideen diskutiert, um einen Teil dieses Erbes zu erhalten.
Sächsischer Teil des Lausitzer Reviers: Vielfalt von Isolatorenwerk bis Kirche und Bombe
1993 wurde sie liquidiert – die Margarethenhütte in Großdubrau bei Bautzen. Bis zur Wende wurden dort unter anderem Hochspannungisolatoren gefertigt. Ein wichtiger Baustein für die Energieversorgung. Dies macht die einstige Hütte, an die noch ein Museum erinnert, zu einem Baustein im Gefüge der Braunkohleförderung und -nutzung. Und damit interessant für Denkmalexperten. Denn die erfassen gerade all diese Objekte rund um die Braunkohle. Dazu gehören Glaswerke in Weißwasser, die mit Strom aus der Kohle versorgt wurden. Oder auch ein Hydrierwerk in Hirschfelde bei Zittau, von dem Reste vorhanden sind. Zylinderförmige Stahlbetontanks, errichtet 1944 durch die Nationalsozialisten. In ihnen sollte Flugbenzin lagern, das die Nazis herstellen wollten aus Braunkohle – die gab es im örtlichen Tagebau. Kathrin Kruner, Industriearchäologin vom sächsischen Landesamt für Denkmalpflege, hatte die Anlage durch Luftbilder entdeckt. Sie gehört zu einem Erfassungsteam des Amtes, das Braunkohle-Objekte sucht, kartiert, beschreibt. Die Margarethenhütte und die Tanks zeigen, es geht nicht nur um Bagger und Brikettfabriken. Interessant sind auch Stromleitungen, Umspannwerke, Gedenksteine für zerstörte Dörfer.
Sogar Bomben zählen mitunter zum Braunkohle-Erbe. So jene, die alliierte Kräfte im Zweiten Weltkrieg auf das Mineralölwerk Lützkendorf im heutigen Sachsen-Anhalt warfen. Denn im Betrieb wurden Ölprodukte aus Kohle hergestellt. Nachdem große Anlagen dieser Art zerstört waren, setzten die Nazis auf kleine – wie in Hirschfelde, weiß Nora Wiedemann, auch Teil des Erfassungsteams. Relevant seien auch Kirchen, die für Kohlekumpel eingerichtet wurden, oder Baracken für Kriegsgefangene, die in der Kohle Zwangsarbeit leisten mussten. Zwei Jahre lang sind und waren Fachleute im Auftrag der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien in den drei noch aktiven Braunkohlerevieren unterwegs. Automatisch zum Denkmal werden die ermittelten Objekte nicht. Das werde einzeln geprüft. In der sächsischen Lausitz gibt es noch zwei aktive Braunkohletagebaue sowie das Kraftwerk Boxberg. Rund 1.800 Objekte werden hier im Rahmen des Projekts wohl registriert. Die Dimension über alle Reviere reiche von der kleinen Lore bis zum 160 Meter hohen Kraftwerksblock, schreibt Sabine Webersinke vom Denkmalamt. Mit dem Kohleausstieg werden quasi alle Objekte „historisch“, sagen die Fachleute. Um deren Zukunft nicht dem Zufall zu überlassen, machte Tom Pfefferkorn vom Erfassungsteam Lausitz folgende Vorschläge: Es müsse eine „Auffangstelle“ für Archivgut zum Lausitzer Bergbau geschaffen, Erinnerung von Zeitzeugen festgehalten werden. Mit den Kommunen müsse man über Objekte auf ihrem Territorium sprechen, Konzepte dafür entwickeln und besonders kleine Gemeinden beim Beantragen von Fördermitteln unterstützen. Museen, Hobbyhistoriker und Vereine rund um das Thema sollten vernetzt werden. Es brauche Marketing; und was schon da ist an Informationsangeboten, solle erhalten werden.
Brandenburgische Lausitz: Unesco-Titel könnte Objekte langfristig schützen helfen
Schaufelrad- und Eimerkettbagger, eine Abraumförderbrücke – das Bergbauunternehmen Leag in der Lausitz bot auf seiner Internetseite diverse Geräte zum Kauf an. Sie stammen aus dem Tagebau Jänschwalde. Dort endet die Braunkohleförderung 2023. Und weil das Aus der Kohle-Nutzung gesetzlich verankert ist, braucht die Leag all das nicht mehr. Eigentlich sind die Großgeräte damit ein Fall für Denkmalschützer. Doch auf dem Kolloquium in Böhlen wurde deutlich: Alles erhalten, was noch da ist – das werde teuer. Allein die Farbe für Stahlriesen wie Bagger verursache immense Kosten. Im brandenburgischen Teil des Lausitzer Reviers, hier werden wohl rund 2.300 industriekulturelle Objekte erfasst, betreibt die Leag noch zwei Tagebaue und zwei Kraftwerke.
Da stellt sich die Frage nach Schutz und Erhalt noch genutzter Technik trotzdem. „Wenn der Denkmalwert gegeben ist, folgt der Eintrag. Das muss der Eigentümer akzeptieren“, betonte Denkmalschützer Ralf Liptau aus dem Rheinland. Manchmal trifft der Schutz auch kleine Städte und Gemeinden – unvorbereitet. Ein Beispiel ist der Schaufelradbagger „Blaues Wunder“ bei Schipkau in Südbrandenburg. Er wurde zunächst als Landmarke an den Rand eines Ex-Tagebaus gesetzt. Aufgrund von zunehmendem Verfall und Vandalismus sollte er 2019 verschrottet werden. Es gab Bürgerproteste dagegen. Die brandenburgische Denkmalbehörde stellte den Bagger unter Schutz. Doch für die nun zuständige Gemeinde Schipkau sei das nicht zu schultern, so wurde letztes Jahr auf einer Tagung mit Denkmalschützern deutlich. Eine Lösung des Problems ist offen. Es gibt durchaus gelungene Nachnutzungsprojekte – wie die Abraumförderbrücke F60, heute ein Besucherbergwerk in Lichterfeld bei Finsterwalde mit jährlich bis zu 70.000 Besuchern. Zunächst geglückte Rettungen können aber auch scheitern. In Plessa in Südbrandenburg steht ein ehemaliges Braunkohlekraftwerk, das der Gemeinde gehört und als Museum von einem Verein betrieben wurde. Es ist derzeit geschlossen, wiederholt habe es dort Diebstahl und Vandalismus gegeben, berichtete vor einer Weile der Bürgermeister aus dem benachbarten Großräschen. In Plessa sei man schlicht überfordert. In Mitteldeutschland misslang die Rettung der früheren Brikettfabrik in Neukirchen, ein Ortsteil von Borna bei Leipzig. Dort war ein ehemaliges Zechenhaus durch eine private Entwicklungsgesellschaft mit öffentlichen und privaten Millionensummen umgenutzt und teilsaniert worden. Es gab eine Disco, ein Restaurant, ein Fitnessstudio und mehr. Der Entwickler sei später aber in Konkurs gegangen. Das Objekt wurde verkauft, nichts tat sich mehr. Die Nutzer zogen aus. Inzwischen verfällt das einstige Vorzeigeprojekt. Langfristig helfen könnte zumindest teilweise der Titel Unesco-Weltkulturerbe. Das Land Brandenburg bemühe sich darum, konkret für die Lausitzer Tagebaufolgelandschaft. Der sächsische Teil sei eingebunden, bestätigt ein Sprecher des Ministeriums für Regionalentwicklung in Dresden.
Mitteldeutsches Revier: Vereine als Bewahrer der Industriekultur verschwinden zunehmend
Drei Tagebaue in Sachsen, Sachsen-Anhalt und minimal in Thüringen, dazu zwei Braunkohlekraftwerke umfasst das aktive Mitteldeutsche Revier. Alles andere ist stillgelegt, ist oder wird rekultiviert. Im sächsischen Teil geht man beim Landesamt für Denkmalpflege davon aus, dass hier 1.700 industriekulturelle Braunkohle-Objekte erfasst werden. Aus Sachsen-Anhalt werden rund 2.500 gemeldet. Nach dem Umbruch in den 1990er-Jahren und dem Aus für viele Gruben, Kraftwerke und angebundene Industrien waren es unter anderem im Mitteldeutschen Raum oft Vereine und Ehrenamtler, die Anlagen bewahrt und zugänglich gemacht haben. Die Engagierten seien nun häufig in fortgeschrittenem Alter, Nachfolger selten in Sicht. Das beschrieb auf dem Kolloquium Professor Andreas Berkner, Leiter des Regionalen Planungsverbandes Westsachsen und selbst als Vorsitzender ehrenamtlich aktiv im Dachverein Mitteldeutsche Straße der Braunkohle. Da drohe Verlust, auch an Wissen. Bis dahin, dass irgendwann Menschen fehlen, die alte Maschinen noch warten und reparieren können. Und wegen des „Rückgangs der Beschäftigtenzahlen sind heute sehr viel weniger Menschen in der Branche tätig“, so Berkner. Es wachse also weniger nach. Bei den „verborgenen Schatzkammern“ von Heimatvereinen stehe sehr oft die Frage, wer sich darum kümmert, wenn die langjährigen Betreuer ausfallen. Ein weiteres Problem seien Nachlässe von Heimatforschern, zu denen zu Lebzeiten keine Regelungen getroffen wurden. „Nicht selten werden diese dann in Einzelstücken veräußert und gehen damit für weitergehende Forschungen verloren“, so Berkner. Das Spektrum, um das es geht, ist riesig. So gebe es unter
anderem 11.000 bis 13.000 unterschiedliche Prägebriketts, auf denen beispielsweise Firmen einst ihr Logo aufbringen ließen, informierte ein Referent der Tagung. Noch existieren große Sammlungen. Deren Besitzer seien inzwischen zum Teil verstorben oder hochbetagt. Die Zukunft der Sammlungen sei offen.
Mit DokMitt, dem Dokumentationszentrums Industrie-Kulturlandschaft Mitteldeutschland in Borna, ist seit 2015 für Mitteldeutschland ein Sammlungs- und Forschungszentrum für die wirtschaftliche Entwicklung in der Region, Schwerpunkt Braunkohle, im Entstehen. Für die Lausitz fehlt so etwas noch, könnte aber in der Energiefabrik Knappenrode aufgebaut werden.
Ein Beispiel für Vereinsauflösungen aufgrund der Altersstruktur sei laut Andreas Berkner der Verein für Erdgeschichte im Südraum Leipzig mit Sitz in Markkleeberg, der sehr aktiv gewesen sei und Ende 2022 sein Wirken einstellen musste. „Solche Entwicklungen werden künftig sicher verstärkt auf uns zukommen“, vermutet er und betont, dass es wichtig sei, den Staffelstab weiterzugeben: „Industriekultur darf kein Altherrenthema werden.“ Man könne sie in etablierte Tourismusstrukturen einbinden. Rad- und Wanderwege entlang wichtiger Objekte und Zeugnisse und Infos über QR-Codes wurden als eine Maßnahme genannt. Vermittlung an Schulen der Kohle-Regionen sei wichtig.
Rheinisches Revier: Denkmalschutz im Braunkohle-Sektor wird als Thema erst erkannt
Maschinen aus dem 1920er-Jahren stehen bis heute im Kohleveredlungsbetrieb Wachtberg im nordrhein-westfälischen Frechen. „Es sieht dort stellenweise aus, wie im Museum“, sagt Ralf Liptau vom Denkmalpflegeamt im Rheinland. Die Fabrik war die letzte im Rheinischen Revier, die bis Ende 2022 Braunkohlebriketts produzierte. Noch bis 2030 stellt der Konzern RWE hier Braunkohlestaub her. Der Komplex gehöre zu nur rund fünf Prozent an Objekten im Bereich „Braunkohle“, die im Rheinischen Revier inzwischen unter Denkmalschutz stehen, so Liptau. Während im Osten, auch durch den Zusammenbruch ganzer Industrien ab 1990, schon viel erfasst wurden, einiges geschützt ist, teils touristisch genutzt oder als Erinnerungsort erhalten ist, stehe man im Westen da fast am Anfang. Denn dort sei das meiste stetig in Betrieb gewesen, oder wurde von privatwirtschaftlichen Eigentümern verkauft, saniert, verwertet. Kaum jemand habe an Denkmalschutz gedacht. Noch läuft im Rheinischen Revier in drei Tagebauen und drei großen Kraftwerken der Betrieb. Ralf Liptau gibt an, es seien hier zwar über 2.000 Braunkohle-Objekte an rund 90 Standorten erfasst, vieles aber auch noch nicht betrachtet worden oder brauche den „Zweitblick“. Das heißt, ob denkmalwürdig oder nicht – das müsse fachlich untermauert werden.
Matthias Wirtz-Amling vom Landschaftsverband Rheinland sagte mit Fokus auf den rheinischen Raum jenen Satz, der für alle Reviere gelten kann: „Man muss nicht alles bewahren, sich aber damit auseinandersetzen, was man bewahren will.“ Doch durch das Kohle-Aus sei die Zeit knapp, so wurde deutlich. Während die Rheinländer noch Lücken haben bei der Erfassung, sind sie digital weiter als der Osten. Der Landschaftsverband Rheinland hat die Plattform „Kultur.Landschaft.Digital“ geschaffen, kurz „KuLaDig“. Das ist eine Online-Karte, auf der Objekte der Kulturlandschaft von der Stadtmauer bis zur stillgelegten Fabrik dargestellt werden. Es geht nicht nur um Braunkohle. Noch 2023 sollen dort die nun gesammelten Daten zu Tagebauen, Kraftwerken und Co. aus Sachsen verfügbar sein. Die anderen teilnehmenden Bundesländer folgen bis 2024. Doch das allein reiche nicht, um nachfolgende Generationen für das Thema zu begeistern. Klaus-Dieter Kleefeld von Landschaftsverband meint darum: Man müsse die Daten nutzen, um damit Geschichten zu erzählen, die Menschen ansprechen. Ideen sind unter anderem: Infotafeln neben Bergbaulandschaften oder Gebäuden. Mit 3-D-Druck könnten Objekte im Kleinformat reproduziert, virtuelle Welten könnten geschaffen werden. Energiekonzerne, die Tagebaue und Kraftwerke betreiben, wie Mibrag, RWE und Leag, sollten eingebunden werden. Bei der BKM wird zudem über eine Bundesstiftung industrielles Welterbe nachgedacht, wo auch Braunkohle eine Rolle spielen soll. Martin Baumert vom Deutschen Bergbaumuseum in Bochum regte an, der Bundesverband Braunkohle (Debriv) könne im Umgang mit dem Bergbau-Erbe eine Aufgabe für die Zukunft finden.