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Wie Sachsens größtes Straßenbauprojekt einer Reiterhof-Idylle bei Pirna zusetzt

Die Südumfahrung Pirna und andere gigantische Pläne rauben dem Pirnaer Süden seine Idylle. Manch einem wird das alles zu viel. Die neue B172 ist eben kein Ponyhof.

Lesedauer: 6 Minuten

Man sieht ein Kind auf einem Pferd.
Grenzenlose Freiheit war einmal: Reitlehrerin Stefanie Hertel und ihre Frau Nadine kommen mit ihrem Pferd Kleiner Onkel samt Mia-Lou nur noch bis zum Zaun. © SZ/Veit Hengst

Von Henry Berndt

Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt und drei macht neune. Ein bisschen wie bei Pippi Langstrumpf sieht das schon aus, wenn die neunjährige Mia-Lou auf dem grauen Pferd den Hügel hinauf über die Wiese reitet, umgeben von weiten Feldern und einem idyllisch gelegenen Dreiseithof. Das Pony hört sogar auf den Namen Kleiner Onkel. Wie bei Pippi. Nur dieser Drahtzaun und die vierspurige Straße dahinter, die passen nicht so recht ins Bild.

Die Straße gehört zu Sachsens größtem und teuerstem Verkehrsprojekt: der Südumfahrung Pirna. Offiziell trägt dieser Abschnitt, der am Ende mal 3,8 Kilometer lang sein wird, den Namen B172n. Die Straße zweigt im Südwesten Pirnas vom Autobahnzubringer der A17 ab, führt einmal quer durch das Seidewitztal und trifft hinter dem Sonnenstein wieder auf die alte B172.

Dass eine Umfahrung des Pirnaer Zentrums nötig ist, daran gibt es schon seit Jahrzehnten keinen ernsthaften Zweifel. Als der zunehmende Verkehr nach der Wende die bisherige Trasse in Richtung Sächsische Schweiz mehr und mehr zum Nadelöhr machte, wurden die Planungen vorangetrieben. 2017 erfolgte der Baustart, der eigentlich in diesem Jahr abgeschlossen sein sollte. Stattdessen lautet das Ziel nun 2026. Die ursprünglich geplanten Baukosten von 97 Millionen Euro haben sich mehr als verdoppelt. Derzeit ist von 230 Millionen Euro die Rede.

Betonsäulen statt Bäume: Das Ufer der Seidewitz lag schon mal idyllischer.© SZ/Veit Hengst

Damit eines Tages viele Autofahrer vom neuen Verkehrsfluss profitieren können, müssen einige Menschen zurückstecken. Dazu gehören ohne Zweifel die Anwohner des Seidewitztales rund um den Pirnaer Stadtteil Zehista. Nicht nur der Bau der Südumfahrung verändert das Gesicht dieser Ortschaft. Auf beiden Seiten des Autobahnzubringers soll ab 2025 der Industriepark Oberelbe entstehen, mit 140 Hektar Industrie- und Gewerbeflächen. Das schafft Arbeitsplätze, aber auch Lärm und zusätzlichen Verkehr. Und dann sind da ja noch die Pläne der Deutschen Bahn, deren Schnellfahrstrecke Dresden – Prag unmittelbar an der Südumfahrung vorbei und dann nach Süden Richtung Dohma weiterführen soll, bevor sie in einem grenzüberschreitenden Tunnel nach Tschechien verschwindet.

Kurzum: Das beschauliche Seidewitztal dürfte sich in den kommenden Jahren in einen Verkehrsknotenpunkt verwandeln.

Geradezu grotesk steht inmitten all dieser Straßen, Brücken und Schienen jener Dreiseithof, den der erste Abschnitt der Südumfahrung schon jetzt in einem engen Bogen umkurvt. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie einsam dieser Hof mal gelegen haben muss. „Nein zum Industriepark“ ist in gelben Buchstaben auf einem roten Banner zu lesen, das an einem Baum vor dem Hof hängt. Die Bürgerinitiative „IPO stoppen“ wehrt sich gegen den Park, unterstützt von Naturschutzverbänden, und argumentiert, die Industrieansiedlung würde die Lebensqualität in der Umgebung nicht wie versprochen erhöhen, sondern dramatisch verschlechtern.

© SZ Grafik

Als Stefanie Hertel sich vor einem Jahr mit ihrer Reitschule „Grinsepony“ auf dem Hof einquartierte, da war schon klar, dass hier künftig nicht nur die Grillen zirpen und die Pferde wiehern, sondern auch allerhand Autos brummen werden. „Natürlich kannten wir das Projekt, aber uns schien das dennoch ein wunderbarer Ort zu sein“, sagt die 38-Jährige. Gemeinsam mit Thomas Kallinich pachtete sie die Stallungen und sicherte sich die Erlaubnis, etwa sechs Hektar an Weidefläche zu nutzen. „Das Wohl der Tiere steht für uns im Mittelpunkt“, sagt sie. „Ein Pferd gehört auf die Wiese.“

Ihre Reitschule sei von Anfang an angenommen worden. Die Kapazitäten der drei Trainer seien bereits ausgelastet. Es könnte so schön sein hier im Pippi-Langstrumpf-Land, doch eines Tages wunderte sich Stefanie Hertel über Holzpflöcke, die an einigen Stellen in den Boden geschlagen waren. Sie dachte nicht weiter darüber nach, bis die Pflöcke durch Metallzäune ersetzt wurden. Wie sich herausstellte, waren Teile der Wiesen rund um den Hof zu Aufforstungsflächen umgewidmet worden – ohne Wissen der Ponyfreunde, denen rasch das Grinsen verging. Diese Flächen gehören jetzt dem Staat, der sie mit heimischen Bäumen bepflanzen ließ.

Inzwischen ist klar: Stefanie Hertel und ihre Reitschule werden umziehen müssen. „Die verbliebenen Weideflächen reichen nicht aus. Unsere Pferde haben gerade keinen Halm Gras zu fressen“, sagt sie. Zum September hat die Reitschule den Pachtvertrag mit dem Hofbesitzer gekündigt. Das neue Domizil liegt etwa sieben Kilometer entfernt im Ortsteil Neundorf. Leicht ist Stefanie Hertel das nicht gefallen, zumal sie und ihre Mitstreiter viel Zeit und Kraft in den Aufbau der Koppeln gesteckt haben. „Leider hat das Gebiet hier in den vergangenen Monaten viel von seinem Charme verloren“, sagt ihr Geschäftspartner Thomas Kallinich. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Eingriffe in die Landschaft solche Dimensionen erreichen würden.“

Am Kohlbergtunnel ruhten zuletzt monatelang die Bauarbeiten.© SZ/Veit Hengst

Einige Hundert Meter die Straße hinunter plätschert die Seidewitz vor sich hin. Aus den rundgespülten Steinen hat jemand einen kleinen Damm gebaut. Nur schwer kommt Stefanie Hertel mit ihrem Kleinen Onkel noch über die steil aufgeschüttete Böschung hinunter zum Fluss. Statt von Bäumen ist sie hier unten nun von zwei Meter dicken Betonsäulen umgeben. Sie tragen die Brücke, die die Südumfahrung über den Fluss leitet.

Was hier schon gewaltig aussieht, ist ein niedlicher Steg im Vergleich zu dem Bauwerk, das gerade im weiteren Verlauf der Südumfahrung errichtet wird. Hinter dem Tunnel, der durch den Kohlberg gemeißelt wurde, wird sich irgendwann eine 916 Meter lange Brücke über das Gottleubatal anschließen. Im Gegensatz zu dieser ist die Brücke über die Seidewitz seit einiger Zeit fertig. Im Dezember wurde der erste Bauabschnitt freigegeben. Der Pfad, der unter der Brücke durchführt, mündet im Postweg, einer Straße mit hübschen, bunten Häusern, formgeschnittenen Hecken und fein gepflasterten Einfahrten.

Zwei Damen unterhalten sich hier über den Gartenzaun. Eine von ihnen vermutet, dass sich der Nutzen der Südumfahrung in Grenzen halten werde. „Den Stau gibt es dann eben an anderer Stelle“, prophezeit sie. „Dafür kommen weniger Touristen nach Pirna, die auf der Fahrt auch mal hier haltgemacht haben.“ „Was soll’s“, sagt die andere und winkt ab. „Wir können eh nichts dagegen machen.“

© SZ Grafik

Ein älterer Mann mäht vor seinem Zaun den Rasen, auch wenn sich vorher und nachher nur durch ein paar gelbe Blümchen unterscheiden. Natürlich verfolge er die Bauprojekte, Sorgen um seine Lebensqualität mache er sich aber nicht. „Sie hören es ja, der Lärm hält sich noch in Grenzen“, sagt er, wohl wissend, dass bislang nur ein Bruchteil des Verkehrs über die Brücke führt, der ab 2026 zu erwarten ist.

Und die geplante Bahntrasse? Da muss der Mann schmunzeln. „Ich vermute, in diesem Zug werde ich nicht mehr mitfahren.“ Angepeilt wird das Jahr 2040.Geht es nach den Wünschen der Bürgerinitiative „Basistunnel nach Prag“, dann wird es diese Bahnbrücke niemals geben, sondern stattdessen einen Tunnel, der von Heidenau bis über die Grenze führt. Wahrscheinlicher erscheint momentan jedoch, dass sich die Bahn letztlich für die teiloffene Variante entscheidet.

Dauerbaustelle in Pirna-Zehista: Die Jahreszahl auf dem Schild kann schnell mal wieder ausgetauscht werden.© SZ/Henry Berndt

Für Stefan Spittler von der Bürgerinitiative wäre das eine Katastrophe. „Die Belastungsgrenze durch den Lärm ist heute schon erreicht und wird mit einer teiloffenen Bahnstrecke definitiv überschritten“, sagt er.

„Nachts werden nach heutigen Einschätzungen der Bahn etwa 75 Güterzüge die Strecke passieren. Ein Teil davon wird im Überholbahnhof zwischen Dohma und Goes anhalten und wieder anfahren. Das wird man in einem Radius von bis zu zehn Kilometern hören. Tausende Menschen werden davon betroffen sein.“ Die Bahn verspricht dagegen in einem Werbevideo für die neue Strecke: „Die Beeinträchtigungen für die Anwohner werden bis auf das unvermeidliche Mindestmaß reduziert.“

Betroffen sein werden wohl auch die Bewohner einiger Neubaublöcke der Wohnungsgenossenschaft Sächsische Schweiz. Sie haben den besten Blick auf die Bauarbeiten und das Mundloch des Kohlbergtunnels. „Es wird Zeit, dass die den Tunnel endlich fertigstellen“, sagt eine Frau. „Hier weht uns so viel Dreck auf den Balkon. Ich muss jeden Tag alles abwischen.“

An der Haltestelle sitzt eine andere ältere Dame und wartet auf den Bus. Sie ist 93, wohnt seit 60 Jahren hier und war dabei, als die Häuser errichtet wurden. „Was war das für eine ruhige Gegend, als ich hier herzog“, erinnert sie sich. „Aber so ist das im Leben, Dinge ändern sich, und man kann nicht auf jeden Rücksicht nehmen. Ich werde hier sicher nicht mehr wegziehen.“

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